Thorau, Christian / Julia Cloot / Marion Saxer (Hg.)
Rückspiegel
Zeitgenössisches Komponieren im Dialog mit älterer Musik
In heuristischer Absicht formuliert, erscheint die Themenstellung des Buchs präzise genug, um einen gemeinsamen Bezugspunkt als Impuls und Denkrichtung für alle Beiträge vorzugeben: Es gilt das Spannungsfeld zwischen Gefundenem und Erfundenem, in dem zeitgenössisches Komponieren als Erhellung und Enthüllung, aber auch als Verwandlung und schöpferische Anverwandlung älterer Musik geschieht, auszuloten. Die (Rück-) Spiegelmetapher wiederum ist offen genug, um durchaus unterschiedliche Lesarten, die im jeweils gewählten Gegenstand sowie im Geschichtsverständnis und im (kompositions-)ästhetischen Standort der Autoren begründet sind, zuzulassen. Was diese einerseits begrenzende, andererseits den ganz persönlichen Blick freisetzende Vorgabe ausgelöst hat, gehört zweifellos zum Inspiriertesten und Informativsten, was in den letzten dreißig Jahren über das Alte im Neuen und den Dialog beider in rebus musicis zu vernehmen war.
Das gilt für Michael Reudenbachs «Gedanken zu Spahlingers adieu m amour» und den Aufweis von Nonos Raumdenken (Prometeo) durch Regine Elzenheimer, für Marion Saxers subtile Erforschung der Bearbeitungstechnik Salvatore Sciarrinos (Luci mie traditrici), für Johannes Schöllhorns Plädoyer, «Vergangenheit als einen Pol der Geschichte zu sehen, der in der Gegenwart dem Pol der Zukunft antworten kann und soll» (in nomine pour trio à cordes, J. S.), für Markus Böggemanns Spurensuche im Nachhall Mozarts bei Lachenmann, Klaus Huber und Arnulf Herrmann wie für Sabine Sanios Neuvermessung des Verhältnisses von Cage zur Tradition.
Am Beispiel von Paul Hindemiths Kammermusiken Nr. 1 und Nr. 2 elaboriert Giselher Schubert «Verständ-nisprobleme des Neoklassizismus», während Markus Fahlbusch in Schönbergs Bearbeitungen nach Händel und Monn den «vielschichtigen Spiegel von Vergangenheit [wahrnimmt], den eine selbstbewusste Moderne sich selbst vorhält». Martin Demmler und Andreas Krause spüren der Gegenwart Bachs im Schaffen von Sofia Gubaidulina und Heinz Holliger nach, Simone Heilgendorff dem Einfluss Schuberts in der neueren Kunstmusik.
Brice Pauset exponiert am Beispiel seiner zweisätzigen Komposition, die Schuberts Klaviersonate a-Moll op. 42 umrahmt wie der Bernstein den Schmetterling, seine Vorstellung von «Geschichte in der Musik»: Zwischen Komposition und Transkription angesiedelt, lasse die Kontra-Sonate den «Nachhall des Originals im geschichtlichen Raum» vernehmbar werden.
In fünf Gesprächen mit Claus Kühnl, José Maria Sánchez-Verdu, Chaya Czernowin, Rolf Riehm und Hans Zender schließlich kristallisiert sich als nicht mehr hintergehbare Option der Gedanke der Brechung heraus, der den schöpferischen Dialog mit älterer Musik grundieren müsse, soll das heute weit geöffnete Fenster zur Vergangenheit nicht zur Falltür in die muffigen Gefilde der Restauration werden.
Summa: Ein Buch, das, trefflich ausgestattet mit vierzig Notenbeispielen und Abbildungen, nicht nur von Esprit, Sachverstand und Kunstnähe durchweht wird, sondern auch von jenem mutigen und belebenden Hauch von Unzeit, ohne den die Intention der Herausgeber nicht einzulösen wäre: «Vorwärtsgewandtes Rückspiegeln».
Peter Becker