Schneid, Tobias PM

sacred landscapes

Verlag/Label: Coviello COV 60908
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2010/03 , Seite 80

Musikalische Wertung: 5
Technische Wertung: 4
Repertoirewert: 5
Booklet: 5
Gesamtwertung: 5

Dass Tobias PM Schneid seine neueste CD sacred landscapes (heilige oder geweihte Landschaften) nennt, erscheint beim Hören – nicht nur des Titelstücks – unmittelbar nachvollziehbar. Trauer und existenzielle Dimensionen bestimmen den Tonfall dieser Musik, die maßgeblich von persönlichen Erfahrungen und Erlebnissen motiviert ist. Gleich in zwei Werken, Klaviertrio Nr. 1 … towards the abstract seas … (2003/08) und Cathedral I-III (2003), setzte sich der 1963 im bayerischen Rehau geborene Komponist mit Sterben und Tod seinen Vaters auseinander, und sacred landscapes (2001/08) entstand unter dem Eindruck der Ereignisse vom 11. September 2001.
Nun ist Schneid niemand, dem ästhetische oder stilistische Engstirnigkeit vorgeworfen werden könnten. Seine Werke versteht er gerade nicht als autonome Klanggebilde, sondern als komplexe und ins Abstrakte transformierte Spiegelungen des Lebens selbst. Dieser Ansatz findet seine Entsprechung auf der Materialebene, auf der immer wieder, in ungewohnten Zusammenhängen, scheinbar Vertrautes bis hin zu tonalen Assoziationen auftaucht. Er begreift seine künstlerische Arbeit als Gratwanderung; und die Gefahr des Abrutschens ins Konventionelle sieht er im Gegenzug als Sprungbrett an, der «Keimfreiheit» struktureller Selbstbezüglichkeit zu entrinnen und auf wenig abgesichertes Terrain vorzudringen.
So begegnen sich im Klaviertrio, in der Interpretation des Münchner ensemble trioLog, tonale und atonale Passagen dergestalt, dass sie sich wech­selseitig irritieren und verzaubern. Kaum eindringlicher – und dennoch frei von (falschem) Pathos – ließe sich der Zwiespalt zwischen stiller Trauer und hoher emotionaler Erregung zum Ausdruck bringen. In die Sphäre gedehnter, mitunter an maskenhafte Verzerrung gemahnender Langsamkeit sind die Cathedral-Stücke entrückt, von denen zwei Versionen (für Soloklavier und Ensemble) gegenübergestellt werden. Auf die Besetzung von Schuberts C-Dur Quintett bezog sich Schneid in sacred landscapes. Dem Geiste Schuberts nachempfunden sind auch das Schreiten auf schwankendem Boden und die subtilen Abgründe, die diese «rituellen Fragmente für Cello und Streichquartett» auszeichnen und die das ensemble trioLog mit sicherem Gespür herausarbeitet.
Jenseits von Trauer und emotionaler Bedrängnis bewegt sich vertical horizon III (2008) für Oboe solo, mit dem eine spannende, zumal konstruktive Elemente fokussierende Werkreihe Schneids ihre gelungene Fortsetzung fand. Inspiriert ist sie von den «sheet of sounds» des Jazzmusikers John Coltrane, wonach die Melodieverläufe, auf denen die Stücke basieren, systematisch durch Akzente, Registerwechsel und Tempoverschiebungen aufgebrochen und zu (virtueller) Mehrstimmigkeit verdichtet werden.

Egbert Hiller