Silvestrov, Valentin

Sacred Works

Verlag/Label: ECM New Series 2117 4763316
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2010/02

Musikalische Wertung: 5
Technische Wertung: 5
Repertoirewert: 4
Booklet: 4
Gesamtwertung: 5

Individueller Ausdruckswille hat in der Ikonenmalerei der christlichen Ostkirchen nichts zu suchen: mehr dem religiösen Handwerk gehört sie an, als dass sie autonome «Kunst» im westeuropäischen Sinn darstellt. In ihrer reinsten Form erscheinen die Christus- und Heiligenbilder dieser hagiografischen Verfahrensweisen als aus allen Kontexten gelöste Antlitze, umgeben nur von der Aura eines goldfarbenen Hintergrunds, der symbolisch für das göttliche Licht steht.
Es scheint ganz, als sei diese Ikonenmalerei das heimliche Vorbild für die auf der vorliegenden CD-Neu­erscheinung dokumentierte geistliche Musik Valentin Silvestrovs, die, von den beiden Sätzen des Diptych von 1995 abgesehen, in den Jahren 2005/ 2006 komponiert wurde. Den entscheidenden Schaffensimpuls bildete damals die Begegnung mit dem Kiewer Kammerchor, dessen Sängerinnen und Sänger sich unter der Leitung von Mykola Hobdych auch in der CD-Einspielung als leidenschaftliche und berufene Interpreten von Silvestrovs Chormusik zeigen.
Das Subjektive tritt in den A-cappella-Sätzen von Silvestrovs Liturgischen Gesängen, Geistlichen Liedern, Psalmvertonungen und seinem Alleluja ganz zurück zugunsten einer spirituellen Haltung, die mit kollektiver Zunge spricht. Wenn der Komponist einmal vom «Gesang der Welt über sich selbst» spricht, scheint er mit dieser Formulierung sich selbst weniger als Schöpfer zu begreifen denn als eine Art Medium, das empfangene Botschaften weitergibt. Die Interpretationen des Kiewer Kammerchors verstärken den Eindruck des Liturgisch-Überpersönlichen noch. Mit großer Ruhe entfalten sich die einzelnen
Vokalsätze, in denen der Komponist offenbar manchmal bewusst benachbarte Akkorde ineinander verfließen lässt. Zwar treten häufig Solostimmen heraus, die Impulse setzen, bleiben jedoch stets an die Einheit des Gesamtklangs gebunden. Nahezu glockenartig werden die Töne und Klänge angestoßen, und glockenartig schwingen sie wieder aus, ein schillerndes und fluktuierendes Obertonspektrum hinterlassend.
Immer wieder folgen den einzelnen Phrasen am Ende unfangreiche Zäsuren, wo die Klänge stillstehen und sich gleichsam selbst nachlauschen. Ob es sich um auskomponierte (mehrfache) Echos handelt oder erst in der Aufführung entstehende, ist manchmal kaum mehr auszumachen; aber auch wenn sie erst Ergebnis der sängerischen Realisation sind, so sind sie wohl vom Komponisten intendiert. Die entstehende musikalische Aureole, nicht unähnlich dem Goldgrund der Ikonenmalerei, ist im Notentext schon mitgedacht, wird aber zusätzlich unterstützt durch den Ort des Erklingens: Aufgenommen wurden die Gesänge in der Mariä-Himmelfahrts-Kathedrale des Höhlenklosters von Kiew.

Gerhard Dietel