Roger Reynolds

Sanctuary

Dolby Digital und DTS 5.1 | 202 min.

Verlag/Label: mode records 232/33
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2012/02 , Seite 77

Je besser die Aufnahme- und Wiedergabetechnik, desto klarer und brillanter das Klangbild der Musik. Das braucht zwar kein Wert an sich zu sein; bei einer Caruso-Aufnahme von 1912 ist es vielleicht gerade die Tonqualität wie bei einem alten Telefonhörer, die den besonderen Reiz des Authentischen ausmacht. Doch bei der Mu­sik, die nur innerhalb der technischen Medien entstehen kann, das heißt bei elektronisch-instrumentaler oder bei reiner Computermusik, ist Spitzenqualität von Ton und gegebenenfalls auch Bild selbstverständliche Voraussetzung.
Was das konkret heißt, lässt sich an der Filmaufzeichnung der 75-minütigen Schlag­zeug-Komposition «Sanctuary» von Roger Reynolds studieren. Live-Elektronik, Aufnahme- und Wiedergabetechnik sind so perfekt auf das Werk bezogen, dass schon der Konzertmitschnitt stellenweise wie eine genuine Medienkomposition daherkommt. Die Kameras beobachten das musikalische Geschehen mit solcher Präzision, dass die körperlichen und räumlichen Qua­litäten der Musik auch am Bildschirm eine Wirkung von größter Unmittelbarkeit erzeugen.
Der 1934 in Detroit geborene Roger Reynolds, Pulitzerpreisträger des Jahres 1989, gehört zu den Komponisten, die schon früh mit dem Computer gearbeitet haben; in seinem Denken gehen Musik und Technik seit je Hand in Hand. Bevor er sich der Komposition zuwandte, studierte Reynolds Physik. 1962-63 arbeitete er im Studio für elektronische Musik am WDR Köln, ab 1969 unterrichtete er an der University of California San Diego, und seit damals steht bei ihm auch die computerge­stützte Klangtransformation auf der Agenda. Roger Reynolds Raumklangkonzept ist stark von Xenakis beeinflusst.
Was man auf den zwei DVDs mit «Sanctuary» sieht und hört, ist das Resultat eines organischen und überaus erfolgreichen Zusammenwirkens von Kunst und Technik. Beteiligt waren neben dem Komponisten, dem herausragenden Perkussionisten Steven Schick, dem Schlagzeugquartett «red fish blue fish» und den Teams für die Aufnahme und Postproduktion auch ein Computerteam aus San Diego, darunter Miller Puckette, Entwickler der Musiksoftware «Max» und «Pure Data». Ästhetik und Technik ergänzen sich auf fruchtbare Weise. Das DVD-Album enthält drei völlig verschiedene Versionen des Werks: Zwei Live-Mitschnitte dokumentieren die Uraufführung, die im Rahmen einer Robert Rauschenberg-Retrospektive in der National Gallery of Art in Washington stattfand, sowie die Zweitaufführung im Salk Institute in La Jolla/Kalifornien. Die dritte Version ist eine speziell produzierte Medienfassung.
Die Synthese von Musik mit neuer Technologie wirkt andernorts häufig steril, doch hier wird daraus ein spannendes, sinnlich-konkretes Ereignis. Kompositorische Intelligenz, Sensibilität der Interpreten und architektonisch spektakuläre Konzertorte – in Kalifornien sieht man im Hintergrund die Sonne im Pazifik versinken – ergeben zusammen mit der brillanten Bild- und Tonregie ein mediales Gesamtkunstwerk. In den Kommentaren des Komponisten, die mit spürbarem dramaturgischem Sachverstand in die Musikaufzeichnungen eingebaut sind, verbindet sich überdies genaue Sachinformation mit Allgemeinverständlichkeit – eine Form der Vermittlung, die die Amerikaner besser als alle anderen beherrschen. Ein halbstündiges Feature über den Komponisten Reynolds rundet die bemerkenswerte Veröffentlichung ab.

May Nyffeler