Lachenmann, Helmut

Schreiben | Double (Grido II)

Verlag/Label: Kairos 0013342 KAI
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2015/03 , Seite 74

Musikalische Wertung: 5
Technische Wertung: 5
Booklet: 5


Es wäre dem redlichen Helmut Lachenmann wohl peinlich, wenn man ihn als so etwas wie den «Meister der Geräuschkomposition» bezeichnen würde. Aber es hat schon was: In Werken vieler seiner Schüler (und Epigonen) klingt das Geräusch eher als Akzidenz, oft als manieristisches. Anders bei Lachenmann: Schon in den frühen 1970er Jahren – etwa im Orchesterwerk Klangschatten – mein Saitenspiel für 48 Streicher und drei Konzertflügel (1972) – ist das so schwer kontrollierbare Geräusch rich­tig am Platz. Gleiches gilt für die beiden großformatigen Stücke auf der CD, für Schreiben (2003) ebenso wie für die Ausarbeitung des bekannten Grido für Streichquartett in Form von Double (Grido II) für Streichorchester (2004).
Es gibt wenige Orchester, die sich – erstens – überhaupt auf Lachenmann einlassen, und – zweitens – solche Hörabenteuer gut zu spielen wissen. Für die Experten des SWR Sinfonieorchesters ist das Erste selbstverständlich. Aber auch das Zweite gelingt ihnen in aufsehenerregender Weise. In Double (Grido II), schon 2005 im Rahmen des Lucerne Festival aufgenommen im akustisch hervorragenden Saal des KKL in Luzern, spielen die ersten Geigen feinste Figurationen in unwirklichen Höhen. Die rhythmische Komplexität bewältigt das Orchester, ohne jedoch dem Stück seine schroffen Abgründe zu nehmen. Angemessener, ja, perfekter ist eine Lachenmann-Interpretation kaum vorstellbar.
Das komplette Orchester ist etwas anderes als ein Streichorchester – es potenziert die Klang- und Geräuschvielfalt. Reichhaltiges Schlagwerk, gestopfte Bläser und variable Streicher durchschreiten in Schreiben verschiedene Felder, die Rainer Nonnenmann im informativen Booklet-Text mit Lachenmanns einst aufgestellten Klangtypologien in Zusammenhang bringt. Sylvain Cambreling ist im Falle von Schreiben ein siche­rer Bändiger orchestraler Energien. Überwältigende Prägnanz hat auch diese Einspielung aus der – dem Luzerner KKL akustisch ebenbürtigen – Berliner Philharmonie. An den sämtlichen Höchstnoten haben die überzeugenden Produktionen des Schweizer Radios (Double) und des SWR (Schreiben) großen Anteil. Selten bis nie kamen Lachenmanns Orchesterwerke in solch fulminanter Räumlichkeit zur Entfaltung.
Die Publikation aus dem Hause Kairos ist ein Ereignis – sie wirft die Frage auf, ob es nicht sinnvoll wäre, eine CD-Reihe zu starten mit großen, bisher unveröffentlichten Orchesterwerken. Vielleicht lagert ja auch im Fall solcher «Meister» wie Iannis Xenakis, Bernd Alois Zimmermann oder Pierre Boulez noch einiges in den Archiven der Rundfunksender? Einziger Wermutstropfen bleibt das immer näher rückende Verschwinden des SWR Sinfonieorchesters Baden-Baden und Freiburg.
Torsten Möller