Goeyvaerts, Karel

Selbstlose Musik

Texte, Briefe, Gespräche, hg. von Mark Delaere, deutsch/niederländisch/französisch

Verlag/Label: Edition MusikTexte, Köln 2010
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2011/02 , Seite 93

Die jüngste Geschichte ist immer die dunkelste. Für die Musik nach 1945 gilt das allemal: Durch musikwissenschaftliche Hagiographien und die Selbstdarstellungen einiger Groß-Komponisten vernebelt, hat es eines guten halben Jahrhunderts bedurft, bevor – wie zaghaft auch immer – da­mit begonnen wurde, den Schleier zu lüften. Dabei tritt Karel Goeyvaerts (1923-93) gewiss nicht als Racheengel auf. Wer ihn gekannt hat, wird sich seiner als bescheiden, freundlich und äußerst hilfsbereit erinnern.
Goeyvaerts’ «Selbstporträt» lüftet so manchen Schleier um die Urgeschichte der «seriellen» Musik, deren Hebamme er mit seiner Sonate für 2 Klaviere (1950/51) gewesen ist. Die Beschreibung seiner instrumentalen und elektronischen Werke aus jener Frühzeit so wie der ihnen zugrunde liegenden kompositorischen Erwägungen erhellt, in welchem Maße Goeyvaerts’ Jugendfreund Stockhausen gerade durch diese Vorbilder geprägt wurde, die teilweise direkt in seine eigenen Werke eingeflossen sind. Beide Komponisten werden – das erhellen Goeyvaerts’ Texte – vom Widerspruch zwischen äußerster Rationalität und extremer Irrationalität geprägt, wobei Letztere sich in den jeweiligen theosophischen Anschauungen niederschlägt. Allerdings wird da ein gewaltiger Unterschied sichtbar: Wo Stockhausen sich zum Kirchenvater aufwarf, ist Goeyvaerts immer ein bescheidener Klosterbruder geblieben.
Goeyvaerts’ Texte erhellen, dass es gerade dieser technisch-ideologische Januskopf der (frühen) seriellen Musik ist, der jener Legende vom «Bruch» zwischen einer frühen, extremen Rationalität und einer späteren – nicht minder extremen – Mystik ein Ende bereitet: Beide sind von Anfang an durch einander bedingt. Sie verschlingen sich von Anbeginn an in einer auf den Klang übertragenen pythagoreischen Kosmologie. Wo die bei Stockhausen im Buch der Urantia-Sekte – der Inspirationsquelle von LICHT und Klang – endet, schließt Goeyvaerts sein Lebenswerk mit einer Aquarius-Oper ab, die – etwas irdischer – auf das angeblich 2160 beginnende Zeitalter des Wassermanns vorbereiten will.
Seinen Abschied von der seriellen Musik hat Goeyvaerts in einem 1958 gehaltenen Vortrag mit deren Mangel an «mitreißender Seelenkraft» begründet. Die serielle Musik sei eine «schöne Klangwelt an sich» geworden und berufe sich nicht mehr auf «unmittelbare Kommunikation». Mag sein, dass diese Argumentation zu kurz greift, sie ist jedoch geschichtliches Moment genau so wie die kritisierte Musik, die genau zu jener Zeit von der einen Krise zur nächsten stolperte. Doch haben sich einige ihrer Paradigmen über sie hinaus erhalten: auch bei Goeyvaerts das eines neuen Klangbewusstseins. Es gehört zu seinem Charakter, dass er sich von der strengen, bei ihm gar: asketischen, Musik der jungen Jahre niemals polemisch abgesetzt noch sie verherrlicht hat. So streng habe man damals komponiert, um die «Ängste zu vertreiben», was einen dritten Einblick in die Genese des Seriellen ermöglicht: den psychischen. Wo bei Goeyvaerts der Ordnungszwang religiös bedingt war («meine Musik, Abbild des Wesens Gottes»), scheint in ihm auch jene panische Angst mitgespielt zu haben, die wohl der ganzen jungen Generation eigen war, die Nazi-Diktatur und (Goeyvaerts’) Besatzungszeit erlebt hatte. Dass allerdings die ursprünglich rigide Konzeption des Seriellen eine Art von Projektion diktatorialer Ordnung ins Ästhetische sein könnte, ist ihm nicht aufgegangen: Seine Einsichten kreisen hauptsächlich um gewissermaßen erdferne ästhetische Probleme. Gerade da, wo er ganz pragmatisch sein möchte, ist Goeyvaerts oft hinreißend unpraktisch. Einem CISAC-Kongress hat er 1972 einen Verteilungsplan für elektronische Musik vorgeschlagen, der dermaßen kompliziert war, dass es zwanzig Jahre dauern sollte, bis das Problem wieder auf die Tagesordnung kam.
Man mag Goeyvaerts’ Schriften inhaltlich zustimmen oder nicht, ganz gewiss sind sie ein wichtiges historisches Dokument, das zur Erhellung einer musikgeschichtlichen Epoche beiträgt, die einer Beleuchtung von allen Seiten dringend bedarf. Der freund­liche, zurückhaltende Ton des ganzen Buches macht dessen Lektüre zu einem wahren Vergnügen, und dass unter dem Blumenbeet so mancher Sprengkörper sich verbirgt, macht die Lektüre spannend: Die serielle Urgeschich­te hat endlich ihren Da Vinci Code.
Da ja kein Belgier belgisch spricht
– und deutsche Leser schon gar nicht –, sind alle (flämischen und französischen) Urtexte mitsamt den deutschen Übersetzungen aufgenommen. In den Übersetzungen gibt es ganz kleine Schnitzer, die das Lesevergnügen jedoch nicht im Geringsten beeinträchtigen.

Konrad Boehmer