Herchet, Jörg
Seligpreisungen
komposition 1 für orgel stück VIII
Musikalische Wertung: 4
Technische Wertung: 5
Booklet: 5
Auch wenn der Komponist seinen Hinweis später zurückzog, «weil solche Titel denn doch irreführend sind für den, der sich an Worte hält, statt sich der Urgewalt der Musik auszusetzen»: das vom Deutschlandfunk in der Kölner Kunst-Station Sankt Peter aufgezeichnete, fast dreiviertelstündige Orgelwerk, das den über viele Jahre entstandenen Zyklus komposition 1 für orgel machtvoll beschließt, lässt sich durchaus auf die Seligpreisungen der Bergpredigt beziehen. Wiewohl es jeglicher Tonmalerei enträt.
Da ihm die Musikhochschulen in Dresden und Ostberlin das Staatsexamen verweigerten, weil seine Musik «eines zukünftigen sozialistischen Komponisten unwürdig» sei, wechselte Jörg Herchet 1970 in die Meisterklasse von Paul Dessau an der Ostberliner Akademie der Künste. Zudem durfte er nächtens die große Orgel der Dresdner Kreuzkirche traktieren, da er ihrem Organisten Herbert Collum als Registrant diente. Ohne die hierdurch erworbene intime Kenntnis der Königin der Instrumente hätte der Zyklus schwerlich entstehen können. Dessen Anfänge, die Stücke I bis III, reichen zurück in die Jahre 1973 bis 1976.
Der nunmehr zum Abschluss gebrachte Werkkomplex trieb nach und nach die strukturbildenden Bausteine hervor, die das finale Gewölbe tragen. Zuvörderst den Allintervall-Akkord cisdfg (der alle Intervalle von der kleinen Sekunde bis zum Tritonus enthält). Da sich aus ihm kein Ton entfernen lässt, ohne ihn seiner Eigenschaft zu berauben, nennt Herchet ihn in Anlehnung an die Farbenlehre Paul Klees einen «individuellen Akkord» im Gegensatz zu «dividuellen Akkorden», die aus kleinen oder großen Terzen, Quarten, Quinten usw. bestehen. Hinzu kommen aus Kleinsekunden aufgeschichtete Cluster, die das chromatische Total ergeben. Zu diesen vielfach umgekehrten, transponierten, gespiegelten, auch ins Melodische umgebogenen Strukturzellen gesellen sich weitere wie der übermäßige Dreiklang oder Quartenklänge.
In stück VIII kommen zwei weitere Elemente hinzu: das Gottessymbol des Oktavklangs, der dieses eröffnet («Ich bin der ich bin»), und der Kreuzakkord, der im dritten Werkabschnitt auftaucht «ein Allintervallakkord, der zugleich mit seiner Umkehrung erscheint und dann über die Achse des Zentraltons gespiegelt wird» (Ingo Dorfmüller). Am Schluss des Stücks baut sich ein Zehnton-Akkord aus reinen und übermäßigen Quarten auf, der mittels Tastenfixierung 88 Takte lang anhält. Die beiden zur Zwölfton-Totale fehlenden Töne lägen dem Akkordaufbau folgend jenseits der Klaviatur: Fingerzeig auf Gott, den Grenzenlosen, Un(be)greifbaren. Dazu erklingt in choralartigem Satz eine Akkordkette, in der sich Sopran und Bass beständig spiegeln, bevor sich der Prozess umkehrt und mit vertauschten Stimmen zurückläuft: Gottvater und Gottessohn sind eines Wesens.
Die Orgel der Kunst-Station, deren Disposition das Beiheft mitteilt, gilt als Meilenstein des zeitgenössischen Orgelbaus. Ihr künstlerischer Zwingherr, der Komponist und Orgelvirtuose Dominik Susteck, hat sich den ambitiösen Werkkosmos spieltechnisch, musikalisch und geistig so zu eigen gemacht, dass es für den Hörer kein Entrinnen gibt.
Lutz Lesle