Werke von Chaya Czernowin, Younghi Pagh-Paan, René Mense und Lisa Streich

Seraph

Verlag/Label: Querstand VKJK 1429
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2015/02 , Seite 86

Musikalische Wertung: 4
Technische Wertung: 3
Booklet: 5

Der Seraph – jenes sechsflügelige himmlische Wesen des Alten Testaments, das Gott mit dem Ruf «Dreimalheilig» lobpreist – lag der in Schweden aufgewachsenen Komponistin Lisa Streich im Sinn, als sie 2013 mit ihrer Tochter und einer Musik schwanger ging, die ihr Kind schützend umhüllen sollte. Der in Weimar ausgebildeten und der «Klangwerkstatt Weimar» vielfältig verbundenen Cellistin Christina Meißner und ihrem dänischen Orgelpartner Poul Skjølstrup Larsen zugedacht, stellt das Duo Seraph hauchfeine Beziehungen zwischen den beiden so verschiedenen Instrumenten her. Zarte «hoquetusartige» Netze spannen allmählich ihre Flügel aus, als wollten sie den Kirchenraum weit hinter sich lassen. Von den Klangfarben der «Son­nenorgel» in der Görlitzer Peterskirche, die alle vier Werke dieser CD-Edition adelt, nutzt sie vor allem das historische, in den Orgelneubau gerettete Register Onda maris. Auch die Cellostimme ist charakterlich bis ins Feinste ausgetüftelt. Sogar die Schnelligkeit der Bogenführung, mit­hin den Bogendruck, hat sie penibel festgelegt.
Dem genannten Interpretenpaar ist auch das Duo Gradual Edge gewidmet, das die aus Israel stammende Komponistin Chaya Czernowin 2012 ersann. Das Stück geht auf eine Rauminstallation des indischen Bildhauers Anish Kapoor zurück: zwei mächtige, ausgehöhlte Halbkugeln, dunkelblau pigmentiert. Die Komposition sucht der Blickspur in die wachsende Dunkelheit der Hohlkörper zu folgen. Indem sie extreme Registerlagen bevorzugt, dunklem Orgelklang hohe Glitzermotive und «vermittelnde» Glissando-Gesten des Cellos entgegensetzt, die sich dehnen und einander überlagern, suggeriert sie einen spiralartigen Formverlauf.
Außermusikalisch angeregt ist auch die dialogisch gedachte Klangraum-Musik Augenblicke – Gebet der Koreanerin Younghi Pagh-Paan. 1994 bis 2011 leitete sie eine Kompositionsklasse an der Bremer Hochschule der Künste. Das gleichfalls für Cello und Orgel konzipierte Werk huldigt der religiösen Denkwelt des dänischen Philosophen Søren Kierkegaard, teilt seine unbedingte Hingabe an Gott im Gebet. Den «Augenblicken» des Werktitels entsprechend reihen sich kontrastierende Klangmomente aneinander, die seelischen Spannungszuständen gleichkommen. Das Stück beschreibe «einen großen Bogen von Himmlisch zu Irdisch, von Anfechtung zu Frieden, von Kampf zu Demut und von Zerstreuung zu Meditation», so die Komponistin. Christina Meißner und Poul Skjølstrup Larsen treffen den panreligiösen Geist der Musik, indem sie die Gegensätze miteinander aussöhnen.
Zur Einweihung der Görlitzer «Sonnenorgel» komponierte René Mense, der in seiner Geburtsstadt Hamburg bei Ulrich Leyendecker studierte und vor allem mit geistlicher Vokalmusik bekannt wurde, 2006 eine Fantasie und Variationen für Violoncello und Orgel – diesmal mit dem musikalischen Hausherrn, Kantor Reinhard Seeliger, auf der Orgelbank. Der kanonisch angelegten Fantasie folgen Variationen über kein Thema, sondern das Vierton-Motiv des ersten Werkteils. Hier wie dort erweist sich Mense als gewitzter Kontrapunktiker und Formbildner.
Lutz Lesle