Czernowin, Chaya

Shifting Gravity / Winter Songs III

Verlag/Label: Wergo WER 67262
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2011/03 , Seite 87

Musikalische Wertung: 5
Technische Wertung: 4
Repertoirewert: 4
Booklet: 5
Gesamtwertung: 5

Schon Darius Milhaud hatte einst eine faszinierende künstlerische Idee: Sein 14. und 15. Streichquartett lassen sich sowohl als eigenständige Werke aufführen wie auch, miteinander kombiniert, als Streichoktett. In Milhauds Fußstapfen wandelt die Komponistin Chaya Czernowin mit ihrem 2008 komponierten Zyklus Anea Crystal. Dieser besteht aus den beiden Streichquartetten «Seed I» und Seed II», die mit leichten Modifikationen zum simultanen Erklingen als Oktett gebracht werden können und als «Saatkörner» dann zur Komposition Anea zusammenwachsen.
In der vorliegenden Einspielung mit dem Quatuor Diotima ist Letzteres anscheinend im Playback-Verfahren geschehen. Die separaten Aufnahmen der beiden Streichquartette zeigen zunächst strukturelle Verwandtschaften, aber auch charakterliche Un­terschiede. Das helle Farben bevorzugende «Seed I» beginnt mit nervösen, mikrotonal differenzierten Pizzicati, schnellen Klangschraffuren und Glissandi, wobei die einzelnen Passagen sich vorwiegend in engem Ton-Ambitus bewegen. In «Seed II» geht es weit aggressiver zu: mit expressiven Einzelgesten sowie heftig auf dem Korpus aufschlagenden Pizzicati. Fast körperlich schmerzhaft wirkt es, wenn hier bohrende Motive erscheinen, sofort wieder nachlassen und nach kurzer Erholungspause zu neuem Leidensschub ansetzen. Gemeinsam ist beiden Quartetten ihre sparsame Satzdichte und die Unterbrechung des Zeitflusses durch lange Zäsuren. Hieraus resultiert, dass das durch Überblendung entstehende Anea (ein Kunstwort der Komponistin für einen imaginierten «Musik-Kristall») zwar im Verlauf kohärenter wirkt, aber eine durchsichtige Textur behält.
Im gleichen Zeitraum, nämlich im Jahre 2008 entstanden sind Sheva und Sahaf für sieben bzw. neun Instrumente in ungewöhnlicher Zusammenstellung. Während in Sheva nach der Intention der Komponistin «unterschiedliche Formen von Klang-Klumpen durch fragile Klanglinien miteinander verbunden» sind, so weist schon der mit «Gestöber» zu übersetzende Titel von Sahaf darauf hin, dass in diesem Werk dichte, ungeordnete, aber eher leichtgewirkte Ton-Agglomerationen im Mittelpunkt stehen. Klare Tonhöhe und festes Metrum dienen hierbei zwar als Orientierungsrahmen, werden aber immer wieder durch mikrotonale Fluktuationen und «betrunkene Rhythmen» aufgeweicht.
Alle bisher genannten Kompositionen gehören in eine größere Werkgruppe, deren Anliegen die stets in Bildern und Metaphern denkende Komponistin mit Shifting Gravity bezeichnet hat: Aufhebung der Schwerkraft durch Musik ist das angestrebte Ziel. Geradezu konträr zu diesem Anliegen stehen Chaya Czernowins auf der vorliegenden CD abschließend dokumentierte Winter Songs III aus den Jahren 2003/04 für zehn Instrumente und Elektronik. In den Gedankenkreis von Franz Schuberts Winterreise taucht die Musik ein: mit dunklen und fahlen Klängen, die eher Stillstand als Bewegung zeigen. «Frozen» lautet denn auch die erste Spielanweisung gleich zu Beginn der Komposition.
Gerhard Dietel