Stahmer, Klaus Hinrich

Silence is the only music

Verlag/Label: artist CD ARTS 81162
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2010/03 , Seite 79

Musikalische Wertung: 5
Technische Wertung: 5
Repertoirewert: 5
Booklet: 5
Gesamtwertung: 5


«Plangenaue Abfahrtszeiten hinterlassen im Leben des organisierten Menschen ihre Spuren ebenso wie all die vielen im Terminkalender fixierten Uhrzeiten», schreibt Klaus Hinrich Stahmer im Booklet zu seiner Komposition Ning Shi. Ein denkwürdiger Satz, der belegt, dass es ihm nicht um ein Spiel mit exotischen Klängen und Instrumenten geht, sondern um eine tiefgreifende Reflexion einer unserer heutigen, modernen Welt entgegengesetzten Lebensauffassung: «Zeitlosigkeit und Schwebezustände breiten sich dagegen in Ning Shi (Gefrorene Zeit) aus, einer Studie über den Stillstand der Zeit für chinesische Mundorgel Sheng und Akkordeon.»
Mit dem Metronom ist hier nichts anzufangen. Klänge stehen im Raum, kreisen um sich selbst, brechen unvermittelt hervor oder plötzlich ab, um ein Echo, wenn nicht äußerlich, so doch im inneren Raum des Hörens zu hinterlassen. Hart angerissen knallen die Saiten der Wölbbrettzithern, die auf Fingerdruck mit feinsten, gleitenden Tonhöhenschwankungen reagieren. Stotternd erklingen die Mehrklänge der Sheng und des Akkordeons. Wie sehr Stahmer Lebensgefühl und Zeitauffassung der ostasiatischen Tradition trifft, zeigen die Kommentare der Interpreten Wu Wei, Il-Ryun Chung, Makiko Goto und Xu Fengxia, die allesamt in den Kompositionen ihre eigene kulturelle Herkunft wiederfinden und umgekehrt in der Lage sind, dies in ihrem Vortrag zum Klingen zu bringen. Wie in der ostasiatischen Tradition bilden zumeist lyrische Bilder den Ausgangspunkt der Komposition.
Diese stammen freilich nicht im­mer von chinesischen oder koreanischen Dichtern, sondern teils auch von Samuel Beckett oder e. e. cummings, die deren Anregungen längst verarbeitet haben. Mit welchem Respekt Stahmer kulturelle Differenzen behandelt, zeigt sich darin, dass er die verschiedenen Instrumente Chinas, Japans und Koreas nicht miteinander vermengt, sondern in ihrem jeweils eigenen Umfeld belässt – mögen die chinesische Guzheng, die japanische Koto und die koreanische Kayagum noch so ähnlich klingen. Er konfrontiert sie jedoch mit europäischen Instrumenten wie Quer- und Blockflöte (Carine Levine), Akkordeon, (Stefan Hussong, Andrea Carola Kiefer), Violoncello (Wolfgang Lessing) oder origi­nären Klangerzeugern wie den in Auf­baukeramik hergestellten Ton­glocken von Heike Kleinlein und den meterlangen, anhaltende Schwebungen hervorbringenden «Horchrohren» von Edmund Kieselbach. Die im Titel angesprochene Stille ist nicht unbedingt Abwesenheit von Klang oder Geräusch, sondern eher ein inneres Anhalten, Zur-Ruhe-Kommen, Gewahrwerden. Gleichwohl handelt es sich nicht um ostasiatische, sondern um eine neue Musik, die aber nicht aus dem Umsturz des Alten erwächst, sondern aus einer Öffnung zur Welt.


Dietrich Heißenbüttel