Heyn, Volker

Sirènes

Verlag/Label: edition RZ 1025
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2012/03 , Seite 86

Musikalische Wertung: 5
Technische Wertung: 5
Booklet: 5

Wo bei John Cage in einem Zeitintervall von 4’33’’ musikalisch nichts stattfindet, aber das, was sich «just in time» ereignet – ein Atmen, Husten, Knacksen, Scharren, Rascheln –, als ein die Zeit begleitender Klang oder Geräusch, nutzt Volker Heyn in seinem Stück K’TEN (2006) für eine konzertierte Aktion zwischen Kontrabass, Violine, Klavier und Perkussion mit relativ hohem Tempo. «K’TEN ist eine Studie. Kein Kommentar», beschreibt der Komponist kurz und knapp den Inhalt seines 4’33’’ dauernden Stücks. Während bei Cage im gleichen Zeitablauf eine Studie außermusikalischen Klangverhaltens durch das Publikum entsteht, gestaltet Heyn von Beginn an aktiv das Thema seiner Arbeit, indem er den Raum musikalisch besetzt, ihn in kleine Parzellen aufteilt und als akus­tische Replik wieder zusammensetzt. Die CD enthält insgesamt zehn Kompositionen, die Heyn zwischen 1983 und 2005 geschrieben hat.
Bei Blues in B-flat (für Violoncello solo) aus dem Jahr 1981 darf kein Blues im klassisch-musikalischen Sinne, kein zwölftaktiger Blues im AAB-Format (Anrufung-Anrufung-Beantwortung), erwartet werden. Das in B-Dur komponierte Stück bedient sich jedoch des philosophisch-gesellschaftlichen Hintergrunds der Musik der Black People in den Vereinigten Staaten von Amerika. Nach Volker Heyn ist der Interpret aufgerufen «als ein Erfinder zu agieren, was Ton- und Geräuschstrukturen betrifft». In der Version von Helmut Menzler klingt das Stück wie ein Aufschrei, der schmerzlich verstummt, erneut hör- und greifbar wird und die Gefühlsebene zwischen Hoffnung und Verzweiflung illustriert.
Das über zwanzig Minuten dauernde Streichquartett Les Visages des Enfantes (2002-2004), ein Auftragswerk des Westdeutschen Rundfunks Köln, transportiert ein außermusikalisches Realgeschehen in die geschlossenen Bereiche einer Partitur. Heyn jongliert hier mit Wörtern, mit nicht im Stück vorhandenen Stimmen aus der Wirklichkeit, die der Komponist während der Arbeit im Kurzwellenrundfunk von der Irak-Invasion hörte. Er benutzte «ready-made»-Partikel aus dem Radio: in das musikalische Alphabet transportierte buchstäbliche Wortfetzen. Les Visages des Enfantes kann als Beispiel dafür gelten, wie aus Irrationalität eine Form von Tonalität entstehen kann.

Klaus Hübner