So near so far
Stücke von Bernfried Pröve, Manuel Hidalgo, Erhard Grosskopf, Yuval Shaked, Jörg Birkenkötter und Jo Kondo
Musikalische Wertung: 5
Technische Wertung: 5
Repertoirewert: 4
Booklet: 4
Gesamtwertung: 4
Seine durchaus ungewöhnliche Besetzung hat dem Trio Accanto keineswegs geschadet ganz im Gegenteil. Inzwischen blicken Marcus Weiss (Saxofon), Yukiko Sugawara (Klavier) und Christian Dierstein (Perkussion) auf fast zwanzig Jahre erfolgreiche Zusammenarbeit mit weit über fünfzig Uraufführungen zurück, ganz zu schweigen von der Tatsache, dass alle Mitglieder auch als gefragte Solisten oder Bestandteile anderer Ensembles (ensemble recherche) gut unterwegs sind. Es war also an der Zeit für ein ausführliches Porträt, das ausnahmslos mit Auftragskompositionen einen Bogen schlägt vom Beginn der 1990er Jahre bis in die Gegenwart.
Label-Chef Bernfried Pröve schickt hier gleichsam das kompositorische Grußwort voran mit seinen Frottages I-III (2004), die auf der Suche nach «einer neuen Art von expressivem Swing» konventionelle Metrik bewusst außer Kraft setzen und anmuten wie eine Mischung aus Schönberg, spätem Ligeti und Jazz. Konsequent atonal, aber auch mit konsequent verzwicktem «Groove» frönen sie der Lust an Polyrhythmik und klangfarblicher Reibung und begeben sich dennoch immer wieder erfolgreich auf die Suche nach Korrespondenzen zwischen den Klanquellen. Im Schlusssatz gerinnt das mikrotonale Spiel der Obertonspektren besonders schön und kontemplativ zu einem Verschmelzungsprozess von eigenartiger Poesie.
Ausgesprochen mathematischen Verfahren verdanken sich die instrumentalen Energien in Hell 1 (1993/94) von Erhard Grosskopf, wo sich im Rahmen einer «Prozessmusik» harmonische Konstellationen in mehreren Zeitschichten konstruktiv überlagern. Bei allem Kalkül und theoretischen Überbau klingen die Resultate jedoch überraschend spontan, ein zersplittertes Netzwerk markanter Akzentuierungen, geräuschhaft eingefärbt durch elektronisches Zuspielband.
Der vielleicht abwechslungsreichste Beitrag dieser Kompilation ist Jörg Birkenkötter zu verdanken, dessen Organisationsprinzipien der Drei Sätze und Coda (2000/01) in ihrer mehrdimensionalen Prozesshaftigkeit fast wie eine Hommage an das Strukturdenken Grosskopfs wirken und ein «Zeit-Netz» knüpfen, das «zunächst ganz ohne Rücksicht auf die zu verwendenden Klänge entworfen ist». Eine labyrinthische, hoquetusartig zerschnittene Musik, die in vielfältigen Farben vor allem das Nicht-Zusammenhängende in den Vordergrund rückt. Es ist im übrigen erstaunlich, welch verwandte Klangergebnisse die Stücke von Erhard Grosskopf, Yuval Shaked und Jörg Birkenkötter zeitigen, wo häufig minimale Impulse flüchtige Interaktionen in Gang setzen!
Geradezu aus dem Rahmen fällt da A Shrub (2000) des Japaners Jo Kondo, der seine Klänge in paarweisem Synchronspiel entwickelt und auf die Differenzen im scheinbar Identischen aus ist, am Ende ganz wunderbar schräg.
Das Trio Accanto offenbart hier Tugenden eines bestens eingespielten Ensembles: Auch konstruierteste Klangprozesse können wie ein Ergebnis spontaner Kommunikation erscheinen, und die Physis jeden einzelnen Klangs wird zum unmittelbar sinnlichen Ereignis.
Dirk Wieschollek