Sanio, Sabine (Hg.)

Sound als Zeitmodell: Zeit als Klang denken

Musik, Klangkunst und die französische Zeitphilosophie

Verlag/Label: Verlag der Universität der Künste Berlin, Berlin 2014, 115 Seiten, 10 Euro
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2015/04 , Seite 87
Der Sammelband Sound als Zeitmodell diskutiert die Wahrnehmung von Zeit in der Musik, die seit jeher 
als eine Zeitkunst gilt. Musikalische Ereignisse verlaufen in bestimmten Zeitspannen ab. Sie er- und verklingen wieder. Dass die Dinge deutlich komplexer und vielschichtiger sind, demonstriert Johannes Regnier in seinem belesenen Essay, der einen Überblick über unterschiedliche mu­sikalische Zeitmodelle liefert, angefangen bei den philosophischen Betrachtungen von Augustinus und Vladimir Jankélévitch bis zu naturwissenschaftlichen Auseinandersetzungen mit dem Phänomen Zeit.
Gregor Pfeffer denkt in Anlehnung an Henri Bergson und Gilles Deleuze über «Zeit und Dauer» nach. Die Ideen der Philosophen werden mit Beispielen aus der Klangkunst untermalt. Alvin Luciers I am Sitting in a Room oder Christina Kubischs Electrical Walks realisieren Klang als «Prozesshaftigkeit und Veränderung» und ermöglichen eine Annäherung an Zeit, die sich «nicht durch Uhren und Kalender kontrollieren lässt».
Lukas Grundmann fasst in seinem Essay die «Sonic Fiction» Kodwo Eshuns zusammen, die «neue Zeitmodelle» entstehen lässt. Kernpunkt der «Sonic Fiction» ist unter anderem die Veränderung von Sound und der damit einhergehenden Zeitwahrnehmung durch «technisch induzierte Mutationen der Klanggestaltung». Es geht beispielsweise um das Sampling, Eshun spricht von einer «Sampledelik». Klänge können durch technische Manipulationen außerhalb der Zeit situiert werden. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verschmelzen im Sampler miteinander. Ob diese zeitlichen Unschärfen heutzutage durch das Internet und die omnipräsente Digitalisierung aktualisiert werden, vertieft der Essay leider nicht. 
Herausgeberin Sabine Sanio stellt in ihrem Aufsatz «einige kompositorische Strategien für die Zeiterfahrung» vor. Interessant sind dabei ihre Ausführungen zur Wiederholung, Variation und Differenz in Bezug auf die Arbeit des österreichischen Komponisten Bernhard Lang, der sich gegen ein Wiederholungsverbot in der Neuen Musik ausspricht. In der Wiederholung liege nicht nur das Potenzial, den Verlauf von Zeit anderweitig wahrzunehmen, sondern auch eine Bewusstseinserweiterung, die nicht nur psychedelisch gedeutet werden kann, sondern auch als progressive politische Triebkraft mit «revolutionäre[m] Anspruch […], der Wahrnehmungsmuster aufsprengen will». Jede Wiederholung konsti­tuiere schließlich eine Differenz, schreibt Gilles Deleuze. Der französische Philosoph beeinflusste Christoph Cox in seinen zeitphilosophischen Reflexionen, die von Jacob Eriksen untersucht werden. Außerdem reflektiert Jasmine Guffond ihre Klanginstallation Noise Cancellation Remix, die für die Ausstellung «Klang­ZeitGefühl» produziert wurde. Der abschließende Bildteil dokumentiert weitere Arbeiten dieser Ausstellung, die mit kurzen Erklärungstexten ergänzt werden.
Raphael Smarzoch