Ferrari, Luc

Souvenir, souvenir

Verlag/Label: Wergo WER 6737 2
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2012/03 , Seite 30

Musikalische Wertung: 5
Technische Wertung: 5
Booklet: 4

Souvenir – die zu Material gewordene Erinnerung, Souvenir – die zum Kitsch tendierende Fleischwerdung gesammelter Pretiosen diverser Lebensetappen und Ortswechsel: Was sich im Laufe der Jahre an Nippes und nur individuell messbaren Erinnerungsstücken anhäuft, fällt in Form akustischer Mitbringsel ein wenig aus dem normativen Rahmen. Luc Ferrari (1929-2005), französischer Komponist mit italienischen Vorfahren, sammelte profane Andenken der besonderen Art: seine Souvenirs zählen zur Kategorie akustischer Erinnerungsstücke, die er selbst als Anekdoten bezeichnete und aus Landschaftsgeräuschen, Vogelstimmen oder Tierlauten konservierte.
Vom Erbauer der «Musique anecdotique» präsentiert Elmar Schrammel, mehrfach ausgezeichneter Pianist und gefeierter Interpret für neue Musik (John Cage, Mathias Spahlinger, Peter Eötvös), sechs Kompositionen, die Ferrari in der Zeit zwischen 1953 und 1985 schrieb. Den ersten, schnellen Satz löst Ferrari nach zwei Minuten auf und gestaltet erst im langsameren zweiten Teil eine der Tradition entgegengesetzte, fast unbeherrscht erscheinende Widersetzlichkeit bis an die Grenze zur Revolte heran. Geradezu hypnotisierend betont Ferrari im zweiten Satz den Erinnerungscharakter musikalischer Weiterentwicklungen, in dem er in das Zwölf­tonsystem im moderater Weise und dezent Partikel der konventionellen Tonsprache integriert.
Die überwiegend weniger als eine Minute kurzen Klavierschnipsel der Sammlung kleiner Stücke oder 36 Aufreihungen für Klavier und Tonband von 1984/ 85, die Ferrari ursprünglich als Musiktheaterobjekte konzipierte, reihen sich pausenlos und druckvoll gespielt wie die Perlen eines Rosenkranzes aneinander. In Paysage dominieren Naturgeräusche: Vogelstimmen, Blätterrauschen, am Schluss das Wort «porquoi». Für dieses Stück benutzte der Komponist in verstärktem Maße ein vom Pianisten zu bedienendes Tonbandgerät, mit dem er musikfremde Geräusche und andere Klänge einspielte. Gleichzeitig hatte der Pianist nach dem anfänglichen Konzept einer musiktheatralischen Anlage der Sammlung die Aufgabe, Fragen der Musik zu beantworten. Wegen nachlassenden Interesses Ferraris an Tonbandexperimenten veränderte er den Charakter der Samm­lung, ohne den Titel aufzugeben: «mit der Streichung der Theaterversion [wurde] auch das Stück No. 30 dahingerafft» (Ferrari). Damit die Ganzheit der Komposition erhalten bleibt, enthält die CD an dieser Stelle fünf Sekunden Stille.
Aus den Fragments d’un journal intime (1980-82) spielt Elmar Schrammel zwei Passagen. Die Rätselhaftigkeit des Namens seiner Komposition Sonatine Elyb (1953/54) erinnerte auch Luc Ferrari nicht mehr, wie er in einer Tagebucheintragung von 1995 feststellte. Hier spult sich eine vom Seriellen dominierte, beständig hinterfragte Klanggeschichte ab, die Elmar Schrammel in konzentrierter «Hörigkeit» erzählt: die Verkleinerungsform der Sonate erschließt sich – spannend für den Hörer – nicht nur in der Dramatik des Allegretto, sie verlangsamt den Erzählfluss im zweiten Teil («adagio») und subsumiert im dritten («andante – allegro subito – tempo di allegro») das Tonmaterial als unteilbare Einheit.

Klaus Hübner