Silvestrov, Valentin

Spektren | Sinfonie Nr. 2 | Kantate | Meditation | “Welt, leb wohl …!”

Verlag/Label: Wergo WER 67312
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2015/03 , Seite 75

Musikalische Wertung: 5
Technische Wertung: 5
Booklet: 4


Der 1937 geborene ukrainische Komponist Valentin Silvestrov hat über die Jahre seines Wirkens ein enorm diverses Œuvre geschaffen, wovon außerhalb seines Heimatlandes sträflich wenig bekannt ist. Auf der vorliegenden CD bietet sich die Möglichkeit des Kennenlernens der musiksprachlichen Vielfalt und Innovationskraft des Autodidakten.
Alle Aufnahmen sind historisch, die jüngste – Welt, leb wohl …!, Nr. 5 aus dem Vokalzyklus Stille Lieder (1974–77) für Bariton und Kammerorchester, in einer Bearbeitung von Igor Blaschkow – datiert auf 1991. Die für Kammerorchester besetzten Werke Spektren und Symphonie Nr. 2 (beide 1965) wurden Mitte der 60er Jahre aufgenommen, was nicht nur ganz erstaunlich ist, weil man ihnen das Alter in keinem Moment anhört, sondern auch, weil die Musik so vollkommen anders klingt als alles, was zum damaligen Zeitpunkt westlich der Ukraine komponiert wurde, und gleichzeitig von einer fundierten Kenntnis dessen zeugt.
Entstanden als Auftragsarbeit für einen schließlich von der Zensur verhinderten Film des Regisseurs Sergei Paradschanow war die Abbildung von Feuer und Licht in allen denkbaren Nuancen die musikalische Grundidee von Spektren. Silves­trov findet schlüssige poetische Entsprechungen für die Schattierungen des Lichts in der farbenreichen Orchesterbesetzung, den Tempowechseln und dynamischen Bewegungen des Klangs. Graduelle Übergänge von hell zu dunkel bestimmen die Struktur der Musik, als Aufflammen, Flackern, Strahlen oder Verglimmen. Parallelen zur Spektralmusik sind im häufigen Aufsplittern der Klänge und ihrem irisierenden Nachhall durchaus auszumachen, obwohl Silvestrovs Intention eine gänzlich andere ist – seine Idee ist vielmehr die einer formgebenden Melodie als Material, die noch jedes Zucken des Lichts durchwirkt und auch die im Raum versprengten Funken leitet.
In Spektren etabliert Silvestrov eine Notationsweise, um Aleatorik explizit mit einzubeziehen: senkrechte Pfeile über dem Notensystem unterteilen die musikalische Zeit in reale Zeitmaße, innerhalb derer komponierte und improvisierte Anteile verschwimmen. In der einsätzigen Sym­phonie Nr. 2 verleiht dies dem musikalischen Gefüge eine Schwerelosigkeit, die in drei Abschnitten jeweils unterschiedlich konnotiert wird. Nach einer dramatischen Passage mit Ensembleintroduktion, Glockensolo und Beantwortung durch die Flöte öffnet sich die Musik zu einem lyrischen Adagio, das trotz ruckartig vorgetragener Schlagzeug-Kadenz durchweg leise Töne anschlägt. Das kurze Finale befriedet den nie zum Ausbruch gekommenen Konflikt.
In der Tat scheinen sich in Silves­trovs Musik neoromantische Tendenzen, Tonalität wie Atonalität, erweiterte Spieltechniken und avancierte Kompositionskonzepte unter der schützenden Hand einer poetischen Logik des Ausdrucks zu umarmen: ein auf faszinierend eigenständige Weise Differenzen zusammendenkender Ansatz, der unbedingt mehr Aufmerksamkeit verdient.
Patrick Klingenschmitt