Katzer, Georg

String Quartets

Verlag/Label: NEOS 11020
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2011/02 , Seite 88

Musikalische Wertung: 5
Technische Wertung: 5
Repertoirewert: 4
Booklet: 3
Gesamtwertung: 4

Im westlichen Teil Deutschlands wur­de Georg Katzer lange nur von Musikjournalisten wahrgenommen und geschätzt, die ohne Vorurteile nach Ostberlin, Leipzig und Dresden hinüberhorchten oder den «Warschauer Herbst» besuchten. Seinen Durchbruch erlebte der 1935 in Schlesien geborene, bei Magdeburg aufgewachsene Komponist, der nach autodidaktischen Anfängen an der Berliner Hochschule für Musik hauptsächlich bei Ruth Zechlin studierte, 1965 mit seinem 1. Streichquartett. Es zeigt ihn im Bann traditioneller Formvorgaben, doch zugleich auf der Spur eines unorthodoxen Reihendenkens, das tonale Strebungen zulässt oder gar begünstigt. Das Werk folgt dem Satzschema «schnell – langsam – schnell», bewahrt die Kontrastdramaturgie des Sonatenhauptsatzes und die episodische Anlage des Rondos. In diesem Rahmen entwickeln sich neuartige, spannende Ausdrucks-Potenziale. Sie entspringen der Dialektik von Bindung und Freiheit. Gehämmerte Gleichzeitigkeit verflüchtigt sich in aleatorisch freigelassenen Auflösungsfeldern. Die widerstreitenden Kräfte treiben den gestischen Cha­rakter einer Musik hervor, die trotz ihrer instabilen Struktur immer «gut klingt».
Auch wenn sich in den über zwanzig Jahren, die zwischen dem 1. und dem 3. Streichquartett liegen (ein 2. ging offenbar verloren), die Bindung an traditionelle Formvorwürfe verflüchtigte und Erfahrungen mit experimentellem Musiktheater, zumal mit elektronischer Musik fruchtbar wurden – erhalten blieb die gestische Vielfalt und feingewirkte Mitteilsamkeit von Katzers Tonkunst. Sie äußert sich hier in einem überbordenden Farbenreichtum, der von unterschied­lichen Triller-, Tremolo- und Glissandowirkungen herrührt, vom Spiel am Steg oder Frosch, mit dem Bogenholz oder auf dem Instrumenten-Korpus. Pizzicati, Flageoletts, Extremlagen und Stimmkreuzungen fügen sich sirrend, schwirrend und klirrend ein. Als «Naturvorlage» gibt der Komponist einen lauen Sommerabend an, der ihm einen wundersamen Grillengesang bescherte: «Ein dichtes, zirpendes Gewebe um einen Zentralton.» Natürlich hat der Komponist das Grillenerlebnis seiner kontrapunktischen Webkunst anverwandelt und zu Klangfeldern versponnen, die das Naturereignis in eine Art seelische Kernspintomografie transformieren. Er selbst spricht vom «Ausdruck der Nervosität und Anspannung».
Nochmals 17 Jahre – in denen sich die «Wende zur deutschen Einheit» vollzog – trennen das 2. vom 3. Streichquartett (2004). In einem Satz durchkomponiert wie das Vorhergehende, trägt es den doppelsinnigen Titel tempi fragili. Der Beiname scheint anzudeuten, was alle Komponisten «im Osten» erfuhren, in der ehemaligen DDR eben­so wie in Polen oder dem Baltikum: Man darf nun alles sagen, doch niemand hört mehr zu; zudem muss man seine Musik selber zu Markte tragen. So gerinnen die zerbrechlichen Zeitmaße, wie Ingo Dorfmüller in seinem kundigen Kommentar anmerkt, zur Chiffre der Verunsicherung. Episodisch pendelt das Stück zwischen Weitergehen und Innehalten, leerlaufendem Gleichmaß und ungehaltenen Ausbrüchen. Einfühlsam bis in die Fingerspitzen zerrinnt den wunderbaren Streichern des Sonar Quartetts – ein besseres hätte sich der Komponist kaum wünschen können – das musikalische Richt- und Zeitmaß.

Lutz Lesle