Boulez, Pierre / John Cage
Structures / Music for piano
Musikalische Wertung: 5
Technische Wertung: 4
Repertoirewert: 5
Booklet: 4
Gesamtwertung: 5
Auf den ersten Blick erscheinen die beiden Komponisten als ausgesprochene Antipoden: hier Pierre Boulez, der Meister des rationalen Kalküls, der Vertreter einer französischen Clarté, für den musikalische Schönheit das Ergebnis ihrer seriellen Durchstrukturierung ist; dort der US-Amerikaner John Cage, welcher die Musik von formalen Bindungen löst, indem er ihren Verlauf, inspiriert von der fernöstlichen Spiritualität des Zen-Buddhismus, dem Zufall anheimgibt. Und doch: die beiden Künstler empfanden sich nicht als Rivalen, sondern pflegten seit ihrer ersten Begegnung im Jahre 1949 Freundschaft miteinander und nahmen einen künstlerischen Diskurs auf, von dem ein ausgedehnter Briefwechsel zwischen 1949 und 1954 zeugt.
Eine gemeinsame Stoßrichtung der Kunst von Cage und Boulez ist zumindest in der Negation von Bestehendem auszumachen. Beide wandten sich gegen eine verschlissene Ästhetik des Bedeutens, einerlei, ob es sich dabei um subjektiven Bekenntnisausdruck oder kollektive Indienstnahme handelt. Nur waren die schöpferischen Konsequenzen, welche sie aus dieser gemeinsamen Kritik zogen, verschieden.
Die Pianisten Pi-Hsien Chen und Ian Pace unternehmen nun das reizvolle Experiment, Klavierstücke von Boulez und Cage, die in den 1950er Jahren entstanden, einander im Wechsel gegenüberzustellen. Da sind auf der einen Seite die zwei 1952 bzw. 1961 vollendeten «livres» von Boulez Structures als eine gezielt rein-weiße Musik, in welcher die Tonkombinationen, Dichtegrade, Register, Anschlagsarten und Klangfarben für sich stehen und nicht als Symbol fungieren sollen. Ihnen begegnen Extrakte aus Cages Music for Piano, in denen der Autor die Noten aus Zufallsoperationen oder Unebenheiten des Papiers ableitete und den Ausführenden Freiheit bei der Besetzung sowie der Wahl von Tempo und Dynamik ließ. In der vorliegenden CD-Einspielung haben Pi-Hsien Chen und Ian Pace einige der ausgewählten Stückfolgen zusammen, andere einzeln eingespielt, wobei noch der Toningenieur als dritter Interpret wirkte, indem er die Aufnahmen nach eigenem Gutdünken arrangierte.
Aus heutiger zeitlicher Distanz bleibt die Frage, wie weit den beiden Komponisten tatsächlich der angestrebte Traditionsbruch gelungen ist, und ob sich nicht durch die Hintertür doch wieder der Eindruck der Expressivität einschleicht. Nicht im kompositorischen Konzept miterfasst ist nämlich der Anteil des Rezipienten, der mit vorgeformten Hörerfahrungen an die Musik herantritt und dem die «happy new ears» fehlen, die Cage sich für die Begegnung mit dem Neuen wünschte. Verdichten sich beim Zuhören die zufällig gesetzten, zeitlich vereinzelten Tonpunkte der Klavierstücke von Cage nicht doch wieder zu melodischen Konturen? Und bewirkt die aberwitzige Dichte, mit der in den Strukturen von Boulez die Klaviertöne organisiert sind, nicht wieder eben jenen Virtuosenzauber, der sich aus der Romantik in die Konzertsäle von heute vererbt hat?
Gerhard Dietel