Scherliess, Volker (Hg.)

«Stunde Null»

Zur Musik um 1945

Verlag/Label: Bärenreiter, Kassel 2014, 249 Seiten, 39, 95 Euro
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2015/04 , Seite 86
Der Buch bündelt zwölf Beiträge eines Symposiums, das die Gesellschaft für Musikforschung an der Musikhochschule Lübeck im September 2003 veranstaltet hat. Das ist schon etwas her, doch die Akten sind, bildlich gesagt, alle noch aufgeschlagen und vieles zum Thema schlummert noch irgendwo unberührt. Zum Besten gehört das Gespräch, das der Herausgeber mit Walter Levin, lange Zeit Primgeiger des La Salle-Quartetts, 1994 führte. Levin, geboren 1924, deutsch-jüdischer Herkunft, eloquent, ein so besessener wie kluger Musiker, durchlief mehrere Exilstationen. Von Berlin weg führte es ihn nach Palästina, danach in die USA. Unmissverständlich in seiner Abneigung gegen alles Faschistische, streift Levin die «Stunde Null» 1945 nur. In dem Fall kein Manko. Dem Kinde hätte sich der Judenboykott 1933 unverlierbar eingeprägt. Mit dem nüchternen Blick auf Vorgänge im November 1938, als die Synagogen brannten, erwähnt er den Mord an einen Legationsrat in Paris, der einem polnischen Juden zur Last gelegt wurde, womit die Nazis ihre Untat u. a. begründet hätten. Palästina beschreibt er als ein seinerzeit unterentwickeltes Land. Die türkischen Militärs hätten, als sie abgezogen waren, das Land «in einem völlig verwüsteten Zustand hinterlassen». Die aufführungsästhetischen Zusammenhänge, die der Geiger breit entfaltet, sind, obwohl sie nicht zum Thema gehören, gleichwohl spannend zu lesen.
«Stunde Null» – was ist das? Der einzige in dem Band, der danach fragt, ist Ulrich Mosch, Musikwissenschaftler. Mosch scheut sich nicht, von «deutschem Faschismus» und «Kaltem Krieg» zu reden und sie auf seinen Gegenstand zu beziehen, wenn auch halbherzig. Beide Kategorien gehören als Ausgangspunkte zwingend ins Energiefeld der Aufarbeitung. Mosch analysiert Karl Amadeus Hartmanns musikalische Aufarbeitungsstrategien nach der Katastrophe und fragt: Durch welche Personen mit welcher Vorgeschichte, welcher Tätigkeit und welchem Erleben wurde die Zäsur wahrgenommen? Wurde sie als Katastrophe, als Wiederaufbau oder Neuaufbau, was ein gravierender Unterschied ist, oder als Befreiung erlebt? Dazu kommen, so der Autor, völlig verschiedene Bedeutungen, je nachdem auf welche Altersgruppe, welche Generation der Blick fällt. Darüber, dass in Hamburg, Düsseldorf oder München Nazi­Beamte mit Vorliebe integriert statt eliminiert wurden, hätte sich Hartmann häufig genug kritisch geäußert, und Mosch gibt Belege hierfür. 
Themenrelevant ist auch der Beitrag von Giselher Schubert über «Hindemith und Deutschland nach 1945». Mit ausführlichen Briefzitaten sucht der Autor die Haltung des Komponisten zu begründen, lieber im «Land der unbegrenzten Möglichkeiten» zu bleiben, das ihn vorbehaltlos aufgenommen hatte, als dauerhaft nach Deutschland zurückzukehren. Allzu viele reaktionäre deutsche Briefschreiber hätten ihn zusätzlich davon abgehalten. 
Die abschließende Studie von Herausgeber Volker Scherliess über den Komponisten und Pianisten Dietrich Erdmann ist mehr eine biografische Darstellung als thematisch angelegt. Das Buch überrascht überhaupt insgesamt vielfach durch mangelnde Themenbezogenheit.
Stefan Amzoll