Scelsi, Giacinto

Suite 9 & 10 per pianoforte

Verlag/Label: Wergo WER 67942
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2015/04 , Seite 75

Musikalische Wertung: 5

Technische Wertung: 5

Booklet: 5

Mit tiefschürfenden Aufnahmen hat Sabine Liebner uns die (eigentlich verblüffende) Klavier-Affinität der amerikanischen Avantgarde nähergebracht und es war eigentlich nur eine Frage der Zeit, bis die Münchener Pianistin sich Giacinto Scelsi zuwenden würde. Die Konzentration auf den klingenden Augenblick und das Abtauchen in die Tiefen des Klangs sind – wenn auch unter völlig anderen Vorzeichen – beiden dieser ganz besonderen «Erscheinungen» der Neu­en Musik gemein, die mit zent­raleuropäischen Perspektiven nur we­nig gemein hatten. Liebner hat sich aus der Vielzahl von Scelsis Suiten und Sonaten, die als Assemblage von (allerdings wohl aufeinander abgestimmten!) Einzelimprovisationen aufzufassen sind, zwei eher ruhige Vertreter ausgesucht.
Die Suite Nr. 9 Ttai (1953) ist das kontemplative Gegenstück zur achten Suite Bot Ba, die der tibetischen Kloster-Kultur mit wuchtiger Klang-Ekstase auf der Spur war. Anders die Neunte: «Diese Suite muss mit der größten inneren Ruhe gehört und gespielt werden: nichts für nervöse Leute», merkte Scelsi zum Vortrag an. «Tai» bedeutet im I Ging «Frieden», und Scelsi gedachte hier im Zuge seiner leidenschaftlichen Hingezogenheit zu fernöstlichen Kulturen nichts weniger als «den Klang des heiligen ‹OM› auszudrücken». Scelsi macht das im Wechsel zweier klanglicher Grundtypen: Sätze mit relativ gleichförmigen Achtel- bzw. Pendelbewegungen, die mit reichlich Pedaleinsatz beinahe romantische Klavieridiome evozieren und stärker kontrastive Sätze, die in extremen Registern Klang und Stille kollidieren lassen. Liebner gewährt in beiden Fällen den eminent wichtigen Resonanzen dieser Musik freien Raum, die hier beinahe zu einer selbstständigen Klangschicht gerinnen.
Die stärker melodisch gearbeitete Suite Nr. 10 Ka (1954) ist eines der letzten Klavierwerke Scelsis, bevor er sich vom Klavier ab- und einem Instrumentarium zuwandte, das der Mikrotonalität einen größeren Entfaltungsraum ermöglichte. Einstimmige, mit Tonrepetitionen reich bestückte Melodielinien bestimmen das Wesen von Scelsis vorletzter, auffallend verspielter «Suite», deren rhythmisch prägnante Partien im folk­loristischen Habitus eine überraschende Bártok-Beinflussung zeigen. Liebner treibt die dramaturgischen Steigerungen der rhythmisch markanteren Sätze konsequent voran, ohne hier, in dieser für Scelsis Verhältnisse doch vergleichsweise moderaten Suite, in eine unpassende Extrovertiertheit zu verfallen. Dennoch erhalten die heftigen Attacken des Schlusssatzes (violento, come fendenti di sciabola) allen nötigen Furor. Eine der größten Stärken dieser Einspielung ist aber die große dynamische Differenziertheit, mit der Liebner der Musik Scelsis begegnet. In diesem ungeheuer ambivalenten Zwischenreich von Improvisation und Komposition findet die Pianistin ge­nau das rechte Maß. Kontrolliert und kontemplativ zugleich …
Dirk Wieschollek