Rihm, Wolfgang

Symphonie «Nähe fern»

Verlag/Label: harmonia mundi HMC 902153
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2013/06 , Seite 78

Musikalische Wertung: 3
Technische Wertung: 5
Booklet: 4

Distanz und Nähe sind Aggregatzustände, zwischen denen sich jede alltägliche Beziehung notwendig bewegt. Da­bei bedeuten beide Begriffe nicht bloß räumliche Kategorien, sondern sie sagen etwas über Verwandtschaft, Geneigtheit, Verbundenheit aus. Offenbar liegen hier unsichtbare Bande, die auch über große räumliche oder zeitliche Entfernungen sehr fest sein können und nicht zwangsläufig regelmäßigen Kontakt voraussetzen. Die innere Nähe kann viel mächtiger sein als die äußere Entfernung.
Davon zeugt Wolfgang Rihms Sym­phonie Nähe fern, die eine direkte Verbindung zu den vier Symphonien von Johannes Brahms herstellt. Rihm hat in der Vergangenheit schon häufiger auf Brahms’ Werke rekurriert, etwa in seinem Ernsten Gesang von 1996 oder in Das Lesen der Schrift von 2001/02, vier Orchesterstücken zur Erweiterung der einzelnen Sätze des Brahms-Requiems. Der «symphonische Wunsch» wiederum, der in Nähe fern mündete, erwuchs in Rihm nach der erneuten Begegnung mit den vier wohlvertrauten Symphonien an zwei aufeinanderfolgenden Abenden in München mit der Staatskapelle Berlin unter Daniel Barenboim. Schon länger fasziniert von der Linie als musikalischem Kerngedanken der Brahms’schen Musik, erschien dem Komponisten das Fortsetzen des Weges auf den schemenhaft vorgezeichneten Pfaden ihn zugleich mit dem Vorbild zu verbinden, ihn aber auch «mit Brahms von Brahms weg» zu führen. Ferne Nähe oder nahe Ferne eben – eine Gleichzeitigkeit von Ungleichzeitigem, wie sie Goethe in Perfektion in seinem Gedicht Dämmrung senkte sich von oben exprimierte, das Brahms ebenfalls vertonte. Mit der Orchestration eben dieses Stücks wird Rihms Brahms-Hommage komplett, die in ihrer Ganzheit am 20. August 2012 im Rahmen des Lucerne Festivals mit dem Luzerner Sinfonieorchester unter James Gaffigan und mit dem Bariton Christoph Begemann uraufgeführt wurde.
In den ersten drei Sätzen der Symphonie lässt sich eine deutliche Annäherung an Brahms’ Kompositionsstil ausmachen, wobei Rihms Tonsprache stets die Oberhand behält – Brahms lässt sich quasi durch Rihms Ohren hören. Unter der Oberfläche des Orchestersatzes sind die melodischen Anklänge und harmonischen Fortspinnungen der Vorlage mal mehr, mal weniger präsent; am deutlichsten wird die Verwandtschaft tatsächlich durch das Denken in Linien, durch das verästelte Geschehen auch abseits der Melodiestimme. Die satte und balancierte Farbe des Luzerner Sinfonieorchesters, das die Ambiguität der Komposition mühelos und in allen Facetten überzeugend ausspielt, ist ein großer Gewinn für das Werk: Die subtilen «Vorformen», wie Rihm seine Anleihen nennt, können ihre ganze Wirkung entfalten.
Im vierten Satz findet schließlich die Entfernung vom Referenzpunkt statt, die Trompeten verlassen szenisch die Bühne und allerlei avancierte Spieltechniken und neutönig eingesetztes Schlagwerk steigen aus dem spätromantischen Klangteppich auf. Brahms erscheint hier als Ausgangspunkt zur Erforschung der Moderne; wie Schönberg versteht letztlich auch Wolfgang Rihm Brahms als «den Fortschrittlichen».

Patrick Klingenschmitt