Vieru, Anatol

Symphonie VI Exodus | Memorial

Verlag/Label: Troubadisc TRO-CD 01446
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2015/04 , Seite 73

Musikalische Wertung: 5

Technische Wertung: 5

Booklet: 5

Kommt die Rede auf Komponisten aus Rumänien, so fällt allenfalls der Name George Enescu (1881–1955). Der Großmeister der nächsten Generation, Anatol Vieru (1926–98), ist hierzulande eher unbekannt. Umso notwendiger die hervorragende Edition seiner 6. Symphonie op. 112. 
Anatol Vieru stammt aus der Stadt Ias¸i in der Landschaft Moldau, wo er mit 15 Jahren eines der grausamsten Massaker des mit Hitler­deutschland alliierten Regimes überlebte. Doch äußerte er sich zeitlebens weder zu seiner jüdischen Herkunft noch zu dem Pogrom. Die rumänische Beteiligung am Holocaust passte nicht ins Geschichtsbild der kommunistischen Volksrepublik, die ihm ein Studium bei Aram Chatschaturjan in Moskau ermöglichte. Nur ein einziges Mal rührte Vieru an den blinden Fleck: mit dem 1991 in Israel uraufgeführten Kammerorchesterstück Memorial op. 118, das er den Opfern des Holocaust widmete. In­dem er diatonische, chromatische und mikrotonale Klangelemente nach und nach verschmilzt, gibt er der Utopie Raum, die Lessing einst in die Ring-Parabel Nathans des Weisen kleidete. 
Wer die (dem russischen Dirigenten Gennady Rozhdestvensky zugeeignete) 6. Symphonie Exodus zum ers­ten Mal hört, kommt aus dem Staunen nicht heraus. Obgleich sie sich fast eine Stunde Zeit nimmt – jeder Satz wirkt zunächst wie eine Tondichtung für sich –, langweilt 
sie keinen Augenblick. Unversehens überträgt sie ihren weiten Atem, ihre epische Gelassenheit, aber auch die Schauer des dritten Satzes auf den Hörer. Auch und nicht zuletzt dank der gewissenhaften Probenarbeit des Dirigenten Horia Andreescu mit dem hervorragenden Sinfonieorchester des rumänischen Rundfunks. In der Umbruchszeit 1988/89 komponiert, die er als teils mentalen, teils physischen Exodus erlebte, schöpft das Werk im Wesentlichen aus drei Quellen: dem Alten und Neuen Testament, den Fresken von Francisco José de Goya und zwei Essays des rumänischen Schriftstellers Vintila? Horia, der 1945 emigrierte. Dazu der Komponist (aus dem Französischen übertragen): «Ich war damals berührt von einigen seiner Aufsätze. Der eine, über den Tango, ließ den leichten Schauder [frisson] spüren, der dem Genre regional und weltweit anhaftet. Der erste Satz der Symphonie, ‹Tangochaconne› (33 Va­riationen), vereint zwei spanische Gattungen. Der zweite Satz, der vielleicht aus dem biblischen Anklang [des Titels] Exodus Vorteil zieht, ist eine sinfonische Dichtung. Ein anderer Essay beeinflusste den dritten Satz. Während Horia über Goyas Fresko San Antonio de la Florida spricht [so der Titel des 3. Satzes], lenkt er die Aufmerksamkeit auf die herdenartige Menge, die für die Predigt des Heiligen nur Hohn und Spott übrig hat. Im Jahr zuvor hatte ich in der Kirche zu Madrid ihre furchtbare Verbissenheit erfahren. Die Anspannung des dritten Satzes findet im letzten Teil ‹Soleil pâle› [Bleiche Sonne] zur Ruhe – wenn nicht Katharsis, so doch Entspannung, ein Schatten von Hoffnung.» Triftiger könnte man das inne­re Programm der Symphonie Exodus kaum kennzeichnen. 
 
Lutz Lesle