Henze, Hans Werner

Symphonies 2 & 10

Verlag/Label: Wergo WER 67252
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2014/03 , Seite 82

Musikalische Wertung: 5
Technische Wertung: 5
Booklet: 5

Seine erste Sinfonie empfand Hans Werner Henze schon bald als völligen Fehlschlag: Als «nicht durchdacht, leichtsinnig und infantil» bezeichnete er sie später in seiner Autobiografie Reiselieder mit böhmischen Quinten. Umso mehr strebte er mit der 1949 entstandenen, für eine Aufführung bei den Darmstädter Ferienkursen für Neue Musik gedachten Zweiten danach, ein «gewichtiges», dem sinfonischen Anspruch genügendes Werk zu schaffen, mit dem er sich von den «technischen und anderen Unzulänglichkeiten» der komponierenden Zeitgenossen abheben wollte. Dazu suchte Henze über die Verwendung der Zwölftontechnik hinaus Halt in der Tradition, zumal bei Altmeister Bach: indem er demonstrativ Techniken und Formen wie Invention und Ostinato benutzte, das B-A-C-H-Motiv zitierte und am Schluss ein kurzes Choralzitat (Wie schön leuchtet der Morgenstern) einbaute.
Ein noch auf Mahler verweisender expressiver Adagio-Gestus beherrscht die langsamen Rahmenteile der Sinfonie in der vorliegenden Einspielung durch das Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin unter Leitung von Marek Janowski. Aggressiv wirkt dagegen das zentrale «Allegro molto Vivace», welches mit seinem Gerüst aus wechselnden Metren eher Anregungen aus Strawinskys Le sacre du printemps (zu dem sich einige kurze, überraschende Anklänge ergeben) verarbeitet. Diese Zweite, so Henze, sei «eine Wintermusik, grau und düster. Man könnte denken, dass das Erlebnis des Krieges angefangen hatte, in meiner Musik auf Antwort zu drängen.»
«Frühe Meisterschaft und gelungenes Schlusswort» ist die vorliegende CD betitelt. Mit Letzterem ist Henzes zehnte, im Jahre 2000 vollendete Sinfonie gemeint. Er schrieb sie im Auftrag Paul Sachers unmittelbar nach der «Neunten», um dem Menetekel der Neunzahl als Begrenzung sinfonischer Œuvres zu trotzen, und ließ sie zum «In memoriam» für den 1999 verstorbenen Mäzen und Freund werden. Zugleich zeigt die Partitur in Gänze Henzes raffinierte Beherrschung der Orchesterpalette, die sich der Komponist im Laufe seiner Schaffensjahre erworben hatte. Zum vielfach solistisch ausdifferenzierten «Konzert für Orchester» wur­de diese Zehnte, die Henze im Hinblick auf die Luzerner Uraufführung im Jahre 2002 Simon Rattles City of  Birmingham Symphony Orchestra quasi auf den Leib schrieb.
An orchestraler Brillanz lässt es auch die vorliegende Einspielung mit dem Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin nicht fehlen. In immer neuen Anläufen formen die Berliner Musiker unter Marek Janowskis Leitung die einzelnen Wellen des einleitenden «Sturms» und entfalten den folgenden, rein auf den Streicherklang gestellten «Hymnus» als ein weniger weihevolles als in sich pulsierendes Stück Musik. Im Scherzostelle vertretenden «Tanz» haben dann die Schlagzeuger (inklusive Klavier) ih­ren großen Auftritt, während das Finale einen «Traum» entwirft, dessen Klänge sich – dem alten per aspera ad astra verpflichtet – nach dunklem Beginn immer mehr auflichten.

Gerhard Dietel