Pärt, Arvo

Tabula Rasa. Special Edition

Fratres / Cantus / Tabula Rasa. Audio-CD mit Texten (englisch/deutsch) und Fotos aus dem Original-Album von 1984; Studienpartituren; handschriftliche Partituren von «Tabula rasa» und «Cantus»; exklusive Fotos aus dem ECM-Archiv

Verlag/Label: ECM
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2011/04 , Seite 87

Musikalische Wertung: 5
Technische Wertung: 5
Repertoirewert: 5
Booklet: 4
Gesamtwertung: 5

Arvo Pärt und das Label ECM verbindet bekanntlich ein ganz besonderes, geradezu symbiotisches Verhältnis. Ohne ECM wäre Pärt in Mitteleuropa möglicherweise eine Fußnote musikalischer Perestroika geblieben, ohne Pärt wäre die «New Series», mit der ECM die Sphären alter und neuer Musik für sich entdeckte, möglicherweise nie aus der Taufe gehoben worden. Und so feiert ECM nicht nur Pärt, sondern sich gleich mit, wenn zum 75. Geburtstag des estnischen Komponisten Tabula rasa als üppig ausgestattete Sonderedition wiederveröffentlicht wird. Eine Produktion, der ein geradezu auratischer Nimbus zufällt: Zum einen markierte sie 1984 die erste Veröffentlichung der «New Series», zum anderen die Quelle einer denkbar intensiven Zusammenarbeit, die inzwischen Einspielungen mit annähernd vierzig Werken Pärts hervorgebracht hat. Pärts ECM-Premiere beinhaltete zudem Schlüsselwerke in exzeptioneller Besetzung (neben Gidon Kremer agieren keine geringeren als Keith Jarrett und Alfred Schnittke in den «Nebenrollen»!), die Pärts neue Ästhetik mit verführerischer Schönheit transportierten.
Paul Griffith weist in seinem Vorwort wohlweislich darauf hin, dass diese Musik, mit der Pärt Ende der 1970er Jahre nicht zuletzt bei sich selbst «reinen Tisch» machte, natürlich nicht mehr so klingt wie vor einem Vierteljahrhundert, wo dieser mönchischen Reduktion auf Dreiklangsformeln und brüchige Diatonik noch gehörige Sprengkraft zukam. Aber ihr Charisma scheint davon auch heute seltsam unbeeinträchtigt. Vielleicht liegt das daran, dass sie sich nicht in hohlen Mantras erschöpfte. Pärts Stilisierung zum weltentrückten Mystiker ist zwar nicht von der Hand zu weisen und war letztlich Teil einer Marketing-Strategie, wurde von ihm selbst allerdings eher süffisant kommentiert: «Ich bin kein Prophet, kein Kardinal, kein Mönch. Ich bin nicht mal Vegetarier.»
Was diese attraktive und inhalts­trächtige Jubiläumsausgabe, welche sich strikt an die ursprüngliche CD-Gestaltung inklusive der Liner-Notes von Wolfgang Sandner hält, besonders attraktiv macht, sind die Noten. Sie führen – in den Handschriften fast noch klarer als im Druck – direkt vor Augen, wie streng die Proportionen dieser «Flucht in die freiwillige Ar­mut» (die zumeist auf genau kalkulierten Steigerungs- und Additionsprinzipien beruht) vermessen sind, was mit göttlich inspirierten Meditationen über wenige Töne nur sehr begrenzt zu tun hat. Im Falle von Cantus in Memoriam Benjamin Britten (1977) begegnet vielmehr eine Polyphonie komplexer Stauchungs- und Dehnungsprozesse, die für die vibrierende Intensität des Stücks verantwortlich zeichnet. Dass Pärts von vorne bis hinten durchkonstruierte Spiritualität über weite Strecken aber vollkommen ‹natürlich› erscheint, ist vielleicht das eigentlich Bemerkenswerte ihrer Wirkung.
Dirk Wieschollek