Tarkovsky Quartet

Verlag/Label: ECM 2159
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2011/06 , Seite 86

Musikalische Wertung: 5
Technische Wertung: 5
Repertoirewert: 5
Booklet: 5
Gesamtwertung: 5

Musik und Film sind bei François Couturier zwei untrennbar miteinander verbundene Kunstgattungen, die ohne einander wie amputiert wirken, denen im Alleinsein ein zweites Standbein zu fehlen scheint. Wie Musik und Film zusammengehören, wie groß der Verlust sein wird, wenn das eine ohne das andere in Erscheinung tritt, vermittelt auch der dritte und letzte Teil einer Trilogie des französischen Komponisten, die sich mit dem russischen Filmregisseur Andrei Tarkovsky (1932- 1986) auseinandersetzt.
Nach Nostalghia – A Song For Tarkovsky (2006) und Un jour si blanc (2010) steht auch der dritte Teil der Trilogie noch einmal ganz im Zeichen der Filmarbeit Tarkovskys. Während Nostalghia mit Couturier sowie Anja Lechner, Jean-Marc Larché und Jean-Louis Matinier eingespielt wurde und Un jour si blanc als Soloalbum des Pianisten Couturier entstand, steht der letzte Trilogiepart wieder ganz im Zeichen der Quartettbesetzung.
Kreuzende und parallel laufende musikalische Illustrationslinien, persönliche Hommagen an Familienangehörige und Rückgriffe auf die von Tarkovsky bevorzugten «Film»-Komponisten Johann Sebastian Bach und Giovanni Battista Pergolesi kennzeichnen zwölf auserlesene Stücke mit sehr unterschiedlichen Wurzeln. So wurde François Couturier bei A celui qui a vu l’ange von Pergolesis Stabat Mater und bei Maroussia vom Choral «Das alte Jahr vergangen ist» von Bach inspiriert. Für La passion selon Andreï wählte Couturier aus Bachs Johannespassion den Psalm «Herr, unser Herrscher» als Referenz für eine intensive, die Klangfarben aller beteiligten Instrumente ausschöpfende Komposition. Sie benutzt den Originaltitel des monumentalen Hauptwerks Andrei Rubljow des Regisseurs Tarkovsky, der in diesem schwer zugänglichen Film das Leben des Ikonenmalers erzählt. Tiapa wiederum geht auf den Spitznamen seines jüngsten Sohnes zurück, dem die sowjetischen Behörden nicht erlaubten, seinen seit 1982 im Exil lebenden Vater zu besuchen. «Maroussia» war der zarte Name für Tarkovskys Mutter, deren Figur in Der Spiegel (1973-74) eine zentrale Rolle zugewiesen wurde; im gleichnamigen Stück rezitiert die Stimme von Tarkovskys Vater, einem viel beachteten Lyriker, eigene Gedichte.
Diese Widmungsstücke setzen sich fort, benutzen jedoch konsequent verschiedene musikalische Stile. Wo soeben noch romantische Stimmungen dominierten, verscheuchen kakophonische Passagen den verschleiernden Wohlklang. Insbesondere diese künstlerische Freiheit des Komponisten Couturier untermauert die Filmsprache von Andrei Tarkovsky, der sich in seinen Werken oft der chronologischen, kontinuierlichen Filmstrukturtheorie widersetzte. Ein Eindruck, den Couturier besonders ohrenfällig in dem Stück Sardor aufgreift, dessen Titel auf ein nicht realisiertes Drehbuch Tarkovskys (zusammen mit Alek­sandr Misharin) zu einem tad­schi­kischen Western zurückgeht. In Couturiers Sardor treffen die sowohl für Tarkovsky als auch für den Komponisten wichtigen Stilmerkmale Zeit und Erinnerung aufeinander, die Couturier musikalisch überzeugend und ausgereift bearbeitet.

Klaus Hübner