Riehm, Rolf

Texte

hg. von Marion Saxer

Verlag/Label: Schott music ("edition neue zeitschrift für musik"9, Mainz 2014
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2015/03 , Seite 87

«Kunst an ihrer äußersten Spitze kümmert sich nicht um irgendwelche Verpflichtungen oder Einlösungen», sagt der Komponist Rolf Riehm. Dass diese Maxime auch für sein Schreiben über Kunst gilt, stellt ein Kompendium unter Beweis, das die Musikwissenschaftlerin Marion Saxer zusammengestellt hat. Neben kurzen biografischen Notizen, vier Interviews und vier Essays über Riehms kompositorische Ästhetik machen den größten Teil des Buchs seine Werkkommentare aus: Texte zu 44 Kompositionen, entstanden zwischen 1964 und 2009 – vom inzwischen legendären Oboensolo Ungebräuchliches bis hin zum Klavierkonzert Wer sind diese Kinder. Was alle diese Werke eint, ist die prinzipielle Skepsis gegenüber einer Emphase der kompositorischen Faktur.
In Riehms Musik geht es zu keiner Zeit darum, selbstreferenziell einen state of the art zu demonstrieren, und schon gar nicht zielt er auf die bloße Intaktheit der Oberfläche – auf eine Kongruenz mit dem kulturhistorischen Topos «Neue Musik». Diese Haltung findet sich in seinen Texten gespiegelt. Riehms Kommentare erklären nicht, sind weder Analysen noch Exegese des Klingenden; vielmehr geben sie Auskunft über Denken und Handeln eines Komponisten, dessen Musik sich einer objektivierbaren Folgerichtigkeit verweigert. Ebenso wie in seinen Kompositionen vermeintliche oder tatsächliche Unstimmigkeiten und Widersprüche stets zulässig sind, entziehen sich auch seine Texte jeder gewohnheitsmäßigen Lesbarkeit. Um sein kompositorisches Denken semantisch «abzubilden», vollzieht Riehm in seinen Texten oft unvermittelte Sprünge durch ein weites Feld aus politischem Zeitgeschehen, historischen Fakten, Mythen, Märchen und Erinnerungen, Lyrik, Dramatik und Exponaten aus der Musikgeschichte.
Wer sich auf diese assoziativen Gänge einlässt, erlebt einen Komponisten, dessen Maxime zu jeder Zeit eine ästhetische Kompromisslosigkeit ist. Grundlegend für Riehms Arbeit ist die Absage an jede selbst auferlegte Vorsicht, die nichts in Unordnung bringen möchte. Komponieren bedeute, so Rolf Riehm, einen «Bestand an emotionaler Sensibilität» zu sichern – mithin wahrzunehmen, emp­fänglich zu sein, zu reagieren. Eine solche Haltung verträgt keine Muster, kein Repertoire von Verfügbarkeiten, aus dem der passende Affekt bloß noch herausgegriffen werden muss.
Im Gegenteil: Riehms Gedankengänge kennen keine Scheu vor dem Clash der Epochen, Kulturen und «Stile», was allein schon in einer kursorischen Lektüre seiner Texte deutlich wird. Da trifft Thomas Müntzer auf Andreas Baader, John Donne auf Stephen Hawking oder die Ars Subtilior auf Franz Liszt. Und immer wieder führt der Rekurs zu Homers Odyssee, deren Protagonist Riehm von der petrifizierten Sagengestalt zu einem jetztverstandenen, «angewandten» Helden werden lässt. Unnötig zu erwähnen, dass Odysseus ein paar Zeilen später auf ganz und gar «Unhomerisches» treffen kann: «Es ist einfach so», sagt Rolf Riehm, «dass einem alles eine Zeitlang unterkommt.» In Sinne dieser Kontinuitätsverweigerung sind seine Texte absolut gegenwärtig – selbst noch dort, wo sie bereits über fünfzig Jahre in der Welt sind.
Michael Rebhahn