Carter, Elliott

The Complete String Quartets 1–5

100th Anniversary Release, featuring Mosaic | Dialogues | Enchanted Preludes etc.

Verlag/Label: Naxos 8.503226
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2012/04 , Seite 79

Musikalische Wertung: 5
Technische Wertung: 5
Booklet: 3

Einen solchen Fall von Alterskreativität hat es in der gesamten Musikgeschichte wohl noch nicht gegeben: 103 Jahre ist Elliott Carter, der große alte Mann der amerikanischen Musik, nun, und noch immer veröffentlicht er ein Werk nach dem anderen. Die vorliegende 3-CD-Box umfasst sowohl sämtliche fünf Streichquartette des Komponisten als auch ein Programm zu seinem 100. Geburtstag, auf dem einige der wichtigsten Ensemble- und Kammermusikwerke seiner späten Schaffensperiode enthalten sind. Alle drei CDs liegen auch einzeln vor; gesammelt bieten sie, nicht zuletzt aufgrund des konsumentenfreundlichen Preises, eine ideale Gelegenheit, Carters Musik kennenzulernen.
Gesamt- oder fast vollständige Aufnahmen von Carters Quartetten gibt bzw. gab es bereits mehrere: mit dem Juilliard String Quartet (Sony, nur die Quartette 1 bis 4) sowie den Ardittis (EtCetera bzw. Montaigne). In den letzten Jahren hat sich jedoch das Pacifica Quartet die Werke zu eigen gemacht und sie auch mehrmals zyklisch – an einem Abend (!) – aufgeführt. Die Musiker brauchen sich nicht nur vor keiner Konkurrenz zu verstecken, ihre Einspielung hat in mehrfacher Hinsicht die Nase vorn. Zum einen betrifft dies die Klangqualität: Die Instrumente sind sehr direkt aufgenommen, mit we­nig Nachhall, sodass die zum Teil äußerst intrikaten polyphonen Strukturen beim Hören mustergültig nachzuvollziehen sind. Zum anderen ist das Pacifica Quartet mit der Musik mittlerweile so stark verwurzelt, dass sie mit einer derart natürlichen Lockerheit zu Werke gehen, die oft vergessen lässt, wie ungemein schwer die Kompositionen zu realisieren – und zu rezipieren – sind. Auf diese Weise gewinnt sogar ein Werk wie das stachelige dritte Quartett, das wohl den Gipfel einer mit vier Instrumenten zu erzielenden Komplexität darstellt, fast so etwas wie Nonchalance – was allerdings nicht bedeutet, dass hier Ecken und Kanten glattgebügelt würden. Auch die extreme Individualisierung, die Carter den Instrumenten angedeihen lässt, realisieren die Musiker auf imponierende Weise: Carters Quartette sind stets nicht nur Kammermusik, sondern auch abstrahiertes musikalisches Theater mit vier Darstellern.
Die auf der dritten CD präsentierten Kompositionen führen den Weg fort, den Carter mit seinem fünften Quartett begonnen hat: hin zu einer eher spielerischen Leichtigkeit, die auch den spezifischen Klangfarben der jeweiligen Instrumente Rechnung trägt. Viele der in Carters Neunzigern entstandenen Solowerke sind enthalten – z. B. Gra für Klarinette solo und Scrivo in Vento für Solo-Flöte – sowie Mosaic für Harfe und Dialogues für Klavier, beide mit Begleitung eines Instrumentalensembles. Als Beigabe gibt es noch eine DVD, auf der, neben den Aufführungen der beiden letztgenannten Wer­ke, der damals 97-jährige Carter in einem Interview mit Robert Aitken zu sehen und zu hören ist.

Thomas Schulz