Jostkleigrewe, Anne

the ear of imagination

Die Ästhetik des Klangs in den Vokalkompositionen von Edgard Varèse

Verlag/Label: Pfau, Saarbrücken 2008
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2009/05 , Seite 93

Was Varèse sagte und schrieb, ist widersprüchlich und visionär zugleich. Deshalb hat die deutsche Musikwissenschaft nur wenig zu ihm «verbraten», und dies meist auf hanebüchene Weise. Mit ihrem Buch über Varèses Vokalkompositionen (das obendrein ein umfassendes Bild von Varèses Denkwelt liefert), hat Anne Jostkleigrewe dem musikwissenschaftlichen Jungferntanz ein Ende bereitet. So intel­ligent und umfassend hat sich im deutschsprachigen Raum noch niemand mit dem Giganten auseinandergesetzt. Ihrer Analyse von Varèses vier Vokalwerken – die mehr: nämlich eine tiefgreifende Monografie dieser Werke ist – schickt Jostkleigrewe 200 Seiten voran, in denen sie die Pfeiler beleuchtet, auf denen Varèses Schaffen beruht: den aller künstlerischen Produktion zugrunde liegenden Freiheitsbegriff, die Spannung zwischen Fremd- und Selbstbestimmung der Musik, die Konzeption des Klangs als dynamischem Prozess sowie das Verhältnis des musikalischen Innenraums zum Raum, in dem Musik klingt.
Jostkleigrewes Betrachtungen beruhen zu gutem Teil auf bislang noch nicht veröffentlichten Dokumenten. Ihr gebührt der Ehrentitel eines «Sherlock Holmes» der Varèse-Forschung. Allerdings: Die Autorin hat sich so hingebungsvoll in die Fülle des Materials vertieft, dass manchmal der Eindruck entsteht, sie wolle aus Varèse Konkordanzen herauslesen, wo gerade seine Widersprüchlichkeit Anstöße zum Weiterdenken gäbe. Um­gekehrt dramatisiert sie scheinbare Wi­dersprüche, die keine sind. Den (französischen) Sensualismus gegen die (deutsche) Ausdrucksästhetik auszuspielen, haut daneben: Seit Couffignal ist der Sensualismus nicht mehr als die primäre Erfahrungsquelle; sie lässt jeglichen Ausdruck zu. So hat Jostkleigrewe denn auch Schwierigkeiten mit der Bestimmung von musikalischer Selbstreferenz und exogenen Bestimmungen kompositorischer Fan­­tasie. Wie das im Komponistengehirn funktioniert, werden Musikwissenschaftler sowieso nie erfahren. So lässt sich denn auch Varèses Widerspruch niemals auflösen: Er war «Programm-Komponist» und «absoluter» Komponist in einem, obwohl ihm das oft selbst nicht so klar war.
Varèse war hin- und hergerissen zwischen Rationalismus und Alchemie. Anne Jostkleigrewe versucht beide Welten auf einen Nenner zu bringen. Das kann natürlich niemals gelingen, doch ihr Versuch, Varèse alle Tore eines neuen musikalischen Denkens zu öffnen (ganz jenseits von Adornos dualistisch-manichäistischem Schönberg-Strawinsky-Holz­schnitt), macht das Buch zu einer hinreißenden Lektüre für neues musikalisches Denken. Wo sie sich ernsthaft auf musikwissenschaftlichen Quatsch beruft – etwa auf Helga de la Mottes durch nichts begründete Spekulationen über die Anzahl der Lautsprecher (300) im historischen Brüsseler Pavillon (Expo 1958); genauere Untersuchungen lehren, dass auch das nicht stimmt –, wäre es besser gewesen, sich an der Quelle zu orientieren als am Wasserkran.
Dennoch: Anne Jostkleigrewes Buch sollte nicht nur von Musikwissenschaftlern gelesen werden, sondern auch von Menschen, die wissen wollen, wie sich denn der Denkprozess des Komponierens und Wahrnehmens im 20. Jahrhundert wirklich vollzogen hat.

Konrad Boehmer