Bozzolini, Angelo

The Italian Character

The Story of a Great Italian Orchestra

Verlag/Label: EuroArts 2059384 (Blu-ray), 2059388 (DVD) | 100 min.
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2014/06 , Seite 82

Italien ist das Land der Dauerkrise, und gegenwärtig häufen sich wieder einmal die Hiobsbotschaften vom institutionellen Zerfall der italienischen Musikkultur. Und doch ist sie nicht umzubringen. Liegt es am berühmten Improvisationstalent der Italiener, an der Tatsache, dass doch immer wieder irgendwo Geld aufgetrieben wird, um bis übermorgen zu überleben, oder an der ungebrochenen Lebensfreude der Menschen, die das Klischee vom Verdi-Arien schmetternden Pizzabäcker hartnä­ckig am Leben hält? Vielleicht an allem ein bisschen. Die Art, wie die Italiener das tägliche Leben meistern, hat tatsächlich etwas Einmaliges, und das färbt auch auf das ab, was beim Musikmachen als «italienischer Charakter» zum Vorschein kommt.
Antonio Pappano, musikalischer Leiter des Royal Opera House in London und Chef des Sinfonieorchesters Academia Nazionale di Santa Cecilia in Rom, erklärt das so: «Bei der italienischen Art zu musizieren geht es um den Gesang, die Leidenschaft, das Theatralische, um Kraft und Schwung.» Er steht auf einem Platz des kleinen Dorfes in Süditalien, von wo seine Eltern einst nach England ausgewandert sind. Im Hintergrund trägt eine Frau einen Plastikeimer die Treppe hinunter. «Viele Leute aus diesem Dorf gingen nach London, auch meine Eltern, und sie arbeiteten dort hart. Auch ich habe ein starkes Arbeitsethos. Man muss seine Energie auf die richtige Weise nutzen und sich auf seine Kräfte konzentrieren, um etwas Gutes zu schaffen. Wer eine Begabung hat, muss sie pflegen und etwas daraus machen. Und das habe ich von diesem Dorf mitbekommen.» Über seine ragazzi im römischen Orchester, mit denen er seit 2005 zusammenarbeitet, sagt Pappano: «Wir verstehen uns nicht nur musikalisch, sondern auch menschlich ausgezeichnet. Wir haben dieselbe Persönlichkeit, wird sind begeistert und voller Leidenschaft, aber auch voller Widersprüche und manchmal auch Frustration, weil wir vielleicht nicht gut genug sind.» Das sei eine gute Mischung, und so entwickle man sich weiter. Und dann kommt der Satz: «Die Wärme, die man von den italienischen Musikern empfängt, ist etwas Einmaliges.» Das bekräftigen auch die Dirigenten und Solisten, die mit dem Orchester gearbeitet haben: die Geigerin Lisa Batiashvili, die Pianisten Evgeny Kissin und Lang Lang, Dirigenten wie Leonard Bernstein, Yuri Temirkanov, James Conlon und Daniel Harding.
Der Film von Angelo Bozzolini zeigt, wie stark die italienische Art zu musizieren mit dem alltäglichen Leben verwachsen ist: mit der Kommunikation der Menschen untereinander, den handwerklichen Tä­tigkeiten, der Nähe zur Natur unter frei­em Himmel. Darin unterscheidet sie sich grundlegend vom mehr nüchternen, sachbezogenen Musikverständnis nördlich der Alpen. Das wird mit aussagekräftigen und attraktiven Bildern illustriert. In die Proben- und Konzertaufnahmen sind Sequenzen aus dem privaten Leben der Musiker hineingeschnitten: Man sieht die Kontrabassistin zu Besuch beim Geigenbauer, der ihr Instrument überholt, den Klarinettisten im Kreise seiner Familie, den Geiger in traumhafter Umgebung daheim bei der Arbeit mit seinen Bienen; die Kamera begleitet die Celllistin beim Gang durch die Gassen ihrer Heimatstadt Bari, von wo sie, wie sie sagt, nach Norden emigriert ist, um dort als Orchestermusikerin zu arbeiten, und den Trompeter beim Gang durch den Schnee auf das 2700 Meter hohe Stilfser Joch, wo er ein Solo in die Alpentäler hinausbläst. Der sehenswerte Film ist eine Liebeserklärung an das Orchester und seinen Dirigenten und darüber hinaus an ein Land, das sich und seine großartige Musikkultur immer wieder auf wunderbare Weise vor dem gerade bevorstehenden Untergang zu retten weiß.

Max Nyffeler