Goebbels, Heiner

The Italian Concerto

Verlag/Label: I dischi di angelica IDA 024
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2009/06 , Seite 86

Musikalische Wertung: 5
Technische Wertung: 5
Repertoirewert: 5
Booklet: 5
Gesamtwertung: 5

 

Im Alter von 13 Jahren spielte Heiner Goebbels den dritten Satz aus Johann Sebastian Bachs Klavierwerk «Italienisches Konzert» aus der Clavierübung II (BWV 971) – «mein erstes und wahrscheinlich letztes öffentliches Klassikkonzert». Vierzig Jahre später wagte sich der Komponist, Musiker, Hörspielautor und Regisseur nun doch noch einmal an dieses Stück heran. Jedoch von einem gänzlich anderen Standpunkt aus. Zunächst wählte er aus dem zweiten, dem langsameren Satz einige Portionen aus, und er bat zweitens den Avantgarde-Schlagzeuger Chris Cutler um geräuschvolle Unterstützung.
Während Goebbels improvisierend zwischen Partitur und freier Gestaltung pendelt, zerstört Cutler, der mit Fred Frith und Tim Hodgkinson die Avantgarde-Rockband «Henry Cow» entscheidend prägte, die bedächtig fließende Klangstruktur des Bach’schen Originals. Bis hin zur nach­geahmten modernen Scratch-Technik strapaziert, steht das perkussive Gerüst im ständigen Auf und Ab von Zustimmung und kakophonischem Widerpart. Während der letzten drei Minuten begibt sich das Ensemble Ica­rus mit dem von Goebbels ursprünglich für das Ensemble Modern komponierten Writing II (aus dem musiktheatralischen Werk Black on White) in wilder Leidenschaft unter das Lärm­­diktat des Vorherigen und zeichnet einen kräftigen Schluss-Strich.
Der Kontrast setzt sich fort im 2004 entstandenen Ou Bien Sunyatta – hier das kraftvoll agierende Orchester, dort die zarten, fast minimalistisch gesetzten Töne von Kora und Vokalstimme der senegalesischen Musiker Boubacar und Sira Djebate. In anderer Klangausstattung zwar, formt sich Ou Bien Sunyatta wie The Italian Concerto aus musikalischen Gegensätzen – hier ist es ohrenfällige Diskrepanz zwischen europäischer und afrikanischer Musik. Während der Orchesterpart stürmisch bis haltlos seine Basis als Großklangkörper mit großer Geste unter Beweis stellt, behaupten sich Kora und Stimme als Mittler zwischen zwei Kulturen. Kein Wunder, Boubacar und Sira Djebate gehören beide den Griots an, sind also nicht nur Musiker, sondern auch Geschichtenerzähler, die die «oral history» des afrikanischen Kontinents entsprechend weiterverbreiten.
Von Franz Kafka zur wilden Klangsprache des Posaunisten Johannes Bauer. Was sich wie ein klippenreicher Ritt anhört, ist in Wahrheit eine vollkommen ebene, bodenwellen­lose Angelegenheit. Auch Die Faust im Wappen – wie das abschließende So That The Blood Dropped To The Earth aus dem Zyklus Surrogate Cities stammend – konfrontiert einen Solisten mit einem Orchester. Vielleicht ist das auch umgekehrt richtig, jedenfalls fordert Johannes Bauer in dieser Version für Posaune und Orchester den Klangkörper aus Bologna ohne Rücksichtnahme heraus. Ebenso liefert sich Mezzosopranistin Jocelyn B. Smith mit So That The Blood Dropped To The Earth einen Wettstreit mit dem Orchestra del Teatro Comunale di Bologna.

Klaus Hübner