Ingrid Laubrock Sleepthief

The Madness of Crowds

Verlag/Label: Intakt CD 189
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2011/06 , Seite 89

Musikalische Wertung: 5
Technische Wertung: 4
Repertoirewert: 4
Booklet: 4
Gesamtwertung: 4

Masse als Addition gefundener, verarbeiteter und später archivierter Einzeltöne? Oder Masse als Ansammlung sich fremd gegenüberstehender Kreaturen, die, im Stapelverfahren aufein­ander geschichtet, durch ihre Anonymität im Puzzle des Ganzen als Individuen wahrgenommen werden wollen? Man kann beide Positionen in der Musik von Ingrid Laubrock finden, ohne dicke Bücher wälzen und sich für einen der Pole entscheiden zu müs­sen, ohne zu hinterfragen, ob Masse gegen Klasse spricht oder ob durch gegenseitige Befruchtung die (Ton-) Masse die Klasse ermöglicht. «Ingrid Laubrock Sleepthief» spielt mit diesen Positionen, bezieht dort Stellung, wo die Improvisation Markierungspunkte setzen soll, entzieht sich da, wo die Dissonanz die Hauptrolle besetzt, der Vereinnahmung durch harmonische Praktiken.
Wenn eine schlecht geölte Türe geöffnet wird, ertönen kratzende Geräusche. In den Zwischenpartien des ersten Titels Extraordinary Popular Delusions setzt In­grid Laubrock nadelstichartig kleine Unebenheiten, die eine entfesselte Klaviersequenz Liam Nobles einleiten. Dann wird es dem Schlagzeuger Tom Rainey zu bunt: er prescht zwischen die Clustertöne, ebnet die Asymmetrien und schafft so den Raum, den Ingrid Laubrock im folgenden Yo Never Know What’s In The Next Room füllt. Dieser Titel verspricht nichts Gutes, jedenfalls baut sich im Namen des Stücks eine bedrohliche Haltung auf, die unmittelbar diverse Abwehrmechanismen einschaltet. Hier erheben sich Einzeltöne aus der Masse heraus, dezent blubbernder Wasserstrahl begegnet den jammernden Klängen des Saxofons. Das Verrückte, das Wahnsinnige der Massen reduziert das Trio an dieser Stelle auf eine Handvoll Tonereignisse von effizienter Durchdringung. Dagegen scheinen There She Goes With Her Eyes Out und Tulipmania den Protagonisten regelrecht zu entgleiten, weil die Masse wie irrsinnig interpretierte Freejazz-Passagen den Sound allumfassend dominiert.
Die Divergenz zwischen Rumor und Sanftheit zeigt sich in Haunted Houses, in dem die Klanggröße mit zunehmender Zeitdauer an Masse gewinnt, zwischendurch jedoch immer auch Raum ist, die Stille und ihre Entwicklung zum Geräusch zu zeichnen. Nach dem ersten Sleepthief-Album von 2008 gilt auch hier: Improvisation ist ein lebenswichtiger Zustand des Jazz und einer Saxofonistin, die dem Klang und seinen Momenten großartige Gestaltungselemente verdankt.
Ingrid Laubrock, die seit 1989 in Großbritannien lebt und unter anderem mit Billy Cobham, Stan Sulzmann, Django Bates’ «Human Chain», Lol Coxhill und «Souxie And The Banshees» gearbeitet hat, weckt schlafende Diebe, deren einzige kriminelle Tat darin besteht, nicht nur feinste, sondern auch schräge, zerhackte und widerborstige Klänge gestohlen zu ha­ben. Sleepthief ruht aufbrausend und ebenso sanft in einem Massenmeer aus kalkuliert erzeugtem Tonmaterial, dem weder die Spannung fehlt noch die Gelassenheit.

Klaus Hübner