Franzson, David Brynjar

The Negotiation of Context

Verlag/Label: WERGO WER 73132
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2014/06 , Seite 88

Musikalische Wertung: 5
Technische Wertung: 5
Booklet: 5

Wenn die Überschaubarkeit von Musik ein Kriterium für ihre Qualität definiert – die Überschaubarkeit im Sinne einer Zeitschiene, vielleicht sogar einer Zeitgeschichte –, dann wären die Zeitspannung und die mu­sikalische Spannung zwischen Erik Saties eigentlich nur zwei Minuten dauerndem Klavierstück Vexations mit einer Aufführungsdauer von 18 Stunden und das etwas länger als dreißig Minuten dauernde the Negotiation of Context von David Brynjar Franzson eine Richtschnur. Das Perkussions- und Klavierquartett Yarn | Wire aus New York (Ian Antonio, Russell Greenberg, Schlagzeug; Laura Barger, Ning Yu, Klavier) demonstriert überzeugend durch Franzsons Werk den Stellenwert radikaler Expansionsmusiken im 21. Jahrhundert.
David Brynjar Franzson (*1978 in Island) unternimmt in seinem von 2009 bis 2011 entstandenen, aus drei selbständigen Stücken bestehenden Werk the Negotiation of Context den Versuch, den Zusammenhang imaginärer und realer Klanggeschehnisse auszuhandeln, indem er instrumentale Handlungen auf ihre Veränderbarkeit und Improvisationsfähigkeit (im Sinne von interpretatorischem Wagemut) hin untersucht. Wenn man einmal davon ausgeht, dass die Perkussion als urtümlichste Musikform anzusehen ist, dann ist Franzson mit seiner Komposition mehrere Schritte zurückgegangen und schuf genau mit diesem Rückschritt ein individuelles Werk neuzeitlicher Schlagwerkmusik. Das ist sogar dann gültig, wenn man berücksichtigt, dass die Hälfte der musikalischen Ereignisse hier mit dem Klavier realisiert wird.
Klopfgeräusche, die den Radius des Klanglichen abgrenzen, messerscharfe Klangerwiderungen, deren Basis die Saiten des Klaviers darstellen, komplexe Ein-Ton-Figuren und donnergleich auf- und abschwellende Trommelklänge, echomäßig hinterherstolzierende Klavierminiaturen, Begrenzungstöne setzende, mäßige Cluster und ausschweifende Paradoxien vergänglicher und wiederkehrender Klopfgeräusche – Franzson versetzt die imperialen Gedanken eines Terry Riley oder eines Steve Reich im Sin­ne einer grenzenlos fassbaren Klangwelt in ein modernes Outfit. Wohlgesetzte Tonfolgen korrespondieren mit spontanen,  unaufgefordert auftretenden Zwischenklängen, den Fluss der Kontinuität erschüttern dazwischen platzierte «Störgeräusche».
Historische Vergleiche lassen sich möglicherweise in Teilen von Béla Bartóks Sonate für zwei Klaviere und Schlagzeug und in Karlheinz Stockhausens Schlagtrio für Klavier und zwei mal drei Pauken finden. Während Bartók den Zusammenhang seines Werks durch die gleichberechtigte Instrumentierung betont, verlässt Stockhausen die Linearität der modernen Klassik und forscht in den Zwischenbereichen aus Melodik und Rhythmik. David Brynjar Franzson greift diese Vorarbeiten auf, indem er den Kontext anzweifelt und aus dem Zweifel heraus ungestüme, manchmal alles hinwegfegende Soundstrukturen erfindet. Möglich werden diese elementaren Klänge durch Präparationen, die besonders den Schlaginstrumenten ihre ureigenste Bestimmung entziehen und fragilen Charakteren den Weg ebnen.  

Klaus Hübner