Ross, Alex

The Rest is Noise

Das 20. Jahrhundert hören

Verlag/Label: Piper, München 2009
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2010/02 , Seite 90

Das Buch ist einmalig. Der heute 41-jährige amerikanische Kritiker des New Yorker, dessen Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts die New York Times zu den zehn besten Büchern des Jahres 2007 zählte, hat zehn Jahre seines Lebens in der Bibliotheken mit Hören und Lesen verbracht, um sein Werk verfassen zu können. Wie Ross selber betont, erwuchs es aber auch aus 15 Jahren Arbeit als Musikkritiker. Das Ergebnis ist viel mehr als eine Musikgeschichte, es ist eine vielschichtige Untersuchung der Kunst in den kulturellen, politischen, soziologischen und psychoanalytischen Zusammenhängen der Zeit.
Eine der kompliziertesten Epochen der Menschheit wird unter die Lupe genommen: «Das Jahrhundert begann mit der Mystik der Revolution, mit den verstörenden Harmonien und welterschütternden Rhythmen von Schönberg und Strawinsky. […] Schon in den Zwanzigern war der Prozess der Politisierung in vollem Gange […] In den Dreißigern und Vierzigern wurde die gesamte romantische Tradition praktisch von den totalitären Regimes annektiert. Doch nichts davon konnte sich mit dem messen, was nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges und mit dem Beginn des Kalten Krieges geschah. Die Musikwelt explodierte zu einem Tohuwabohu von Revolutionen, Kontrarevolutionen, Theorien, Polemiken, Allianzen und Parteiungen.»
Gerade in diesem Kontext der Revolutionen, der totalitären Regime und zweier Weltkriege bekommen persönliche Konstellationen und menschliche Schicksale, Komponisten und Musikwerke im Buch von Alex Ross ihr Profil und werden zum Leben erweckt. Wie in einem atemberaubenden Film erlebt sich der Leser gleichzeitig in diversen Zeit- und Raumdimensionen. Das Buch liest sich trotz seines großen Umfangs und seines dichten informativen Charakters geradezu wie ein spannender Roman. Als ausgezeichneter Erzähler weiß Ross die vielfarbige Palette von Charakteren, politischen und kulturellen Geschehnissen nicht nur bildhaft zu beschreiben, sondern neu so zu beleuchten, als ob er im Herzen des Jahrhunderts lausche. Kontroverse Ereignisse werden außerhalb jeder vorgefassten Werthierarchie nebeneinander analysiert, ohne akademische Komplexe, ohne Vorurteile, ohne moralisierenden Zeigerfinger.
Ross’ feine Werkanalysen, von profundem Wissen, Originalität und kritischem Geist geprägt, sind vom Panorama des öffentlichen Lebens nicht zu trennen; es gibt auch keine Trennung zwischen «hoher» und «nie­derer», «klassischer» und Popkultur. Seine Aufführungen bewegen sich auf der Schwelle des Extremen: Gerade in den enormen Polaritäten und Antagonismen werden die inneren Zusammenhänge entdeckt.
Die dreiteilige Struktur des Buchs entspricht der Chronologie der historischen Ereignisse: 1. Teil (1900-1933), 2. Teil (1933-1945) und 3. Teil (1945-2000). Im 1. Teil wird «Das goldene Zeitalter» von Strauß, Mahler, Schönberg und Debussy bis zum Musik­leben Berlins in den Zwanzigern betrachtet. Dazu gehört auch das Kapitel «Unsichtbare – Amerikanische Komponisten von Ives bis Ellington», in dem die Rolle der schwarzen Kultur und ihr Einfluss auf die amerikanische und europäische Musik scharfsinnig betrachtet wird. Diese natürliche Verknüpfung der amerikanischen Musik mit dem musikalischen Weltpanorama, unabhängig von ihrer ganz eigenen Problematik, ist im ganzen Buch zu beobachten. So ist z. B. das Kapitel «Musik für alle – Musik im Amerika Franklin D. Roosevelts» im Zentrum des zweiten Teils platziert, wo die Rede von Totalitarismus in der Sowjetunion und in Hitler-Deutschland ist. Der Gedanke ist überraschend, aber plausibel: Ähnlich wie unter totalitären Regimes richten sich solche linksorientierten amerikanischen Komponisten wie Aaron Copland oder Samuel Barber an ein Massenpublikum. Dazu kommt auch die Tatsache, dass in dieser Zeit die lange Hand Moskaus versuchte, die kommunistische Bewegung in Amerika zu stärken. «Kommunismus ist der Amerikanismus des 20. Jahrhunderts» , so lautete die Parole der Amerikanischen Kommunistischen Partei. Trotzdem war dasselbe Amerika, das von den Europäern als «Wüste der Vulgarität» bezeichnet wurde, unerwartet «zur letzten Hoffnung der Zivilisation» geworden: «1934 zog Arnold Schönberg nach Kalifornien, kaufte sich eine Ford-Limousine und erklärte: ‹Ich wurde ins Paradies vertrieben›»; dem ist ein Bild beigefügt, auf dem der große Komponist in kurzen Hosen seinen Garten in Brentwood, Kalifornien, wässert.
Die Leichtigkeit und Lebhaftigkeit, mit der Ross die Fakten agieren lässt, provozieren zum Mit- und Nachdenken. Aber von seinem Ziel, die Musikentwicklung bis 2000 zu untersuchen, scheint der Autor im letzten Teil überfordert zu sein. Im Vergleich etwa zur beeindruckenden Analyse des amerikanischen Minimalismus sind seine musikalischen Recherchen und Erfahrungen über die mannigfaltigen und komplizierten Wege der europäischen Musik im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts ziemlich begrenzt. Sogar ein so wichtiger Komponist wie György Ligeti ist nur durch seine Werke der 1960er Jahre (u. a. Atmosphères, Lontano, aber nicht Aventures) dargestellt. Die Oper Le Grand Macabre ist kaum erwähnt, das Horntrio (1982) wird als Spätwerk bezeichnet, während die eigentlichen Spätwerke der 1990er Jahre ganz außer Betracht bleiben. Wolfgang Rihm ist nur mit einem Satz erwähnt, über Helmut Lachenmann ist ebenfalls nicht viel zu lesen. Frangis Ali-Zadeh aus Aserbaidschan und Chen Yi aus China seien die «wichtigen Stimmen zeitgenössischer Musik», während bekannte europäische Namen wie Salvatore Sciarrino oder Adriana Hölszky gar nicht erwähnt sind. Man wünschte sich, dass gerade diese interessante Zeit – allerdings gründlich recherchiert – ebenso spannend und brillant beschrieben würde, wie es Ross in weiten anderen Teilen seines Buchs gelungen ist.


Maria Kostakeva