The Schwitters Scandal

Verlag/Label: Arthaus 106 022
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2010/04 , Seite 84

Kampf um Schwitters – Eine Society-Reportage mit Tiefenperspektive

Informationen über einen Künstler und seine Werke kann man auch in die Form einer investigativen Society-Reportage kleiden. Das geschieht in einem Film über den 1887 in Hannover geborenen und 1948 in Nordengland gestorbenen Kurt Schwitters. Der bildende Künstler, Komponist, Autor und Architekt ist in die Geschichte der neuen Musik eingegangen als Schöpfer der Ursonate; die Nachwirkungen seiner Sprachkomposition sind noch in der Neo­avant­garde der 1960er und 1970er Jahre hörbar, bei Schnebel, Kagel, Ligeti und in der experimentellen Poesie.
Im Film mit dem schlagzeilenträchtigen Titel The Schwitters Scandal von Simon Chu geht es zwar nur indirekt um den Künstler selbst, und doch ist sein Werk allgegenwärtig. Es geht in erster Linie um den merkwürdigen Streit um seinen Nachlass und damit um sehr viel Geld und Prestige. Sein Sohn Ernst Schwitters, der rechtmäßige Erbe, wurde nach einem Schlaganfall zur lebenden Schachfigur auf dem Feld der Nachlassjäger, und nach seinem Tod entbrannte der Kampf um die Rechte mit voller Wucht. Der Bericht darüber gleicht einem Krimi, in dem zwar die Hauptpersonen längst tot sind, die Überlebenden sich aber auf umso virtuosere Weise um sein Erbe zanken. Und es bleibt bis zum Schluss unklar, wer in diesem mit existenzieller Verbissenheit geführten Intrigenspiel denn nun eigentlich der wahre Bösewicht ist. Alle wollen angeblich nur das Beste für das Werk.
Das Personal dieser Seifenoper besteht aus dem erweiterten Umfeld des 1996 verstorbenen Erben Ernst Schwitters, und das sind: seine Frau, von der er schon lange getrennt lebte, sein Sohn, eine Geliebte, ein Galerist, ein Privatdetektiv, ein Vormund sowie Anwälte, Kunstkritiker, Experten und Museumskuratoren. Die Szenerie gibt den grellfarbigen und dramaturgisch wirkungsvollen Hintergrund für das Porträt eines Künstlers ab, dessen medienübergreifendes Schaffen in seiner Bedeutung erst heute richtig erkannt wird.
Schwitters, von den Nazis als «entartet» gebrandmarkt und 1937 aus Deutschland vertrieben, war ein Allroundkünstler, der in allen Medien tätig war, wie nach ihm vielleicht nur noch John Cage. Sein Werk ist heute über viele Länder verstreut, was den Streit um seinen Nachlass noch komplizierter und eine zumindest teilweise Zusammenführung, wie es das Sprengelmuseum in Hannover versucht, praktisch unmöglich macht. Der Zustand des fragmentarisierten Œuvres ist zugleich ein kurioses Abbild der Werkstruktur selbst. Der Universalist Schwitters war ein Materialsammler, der das Collageprinzip konsequent zu Ende dachte und die disparatesten Elemente, vom historischen Kunstfragment bis zum Alltagsgegenstand, in sein Schaffen integrierte. Damit erweiterte er den Kunstbegriff radikal.
Die Dokumentation von Simon Chu, eine Mischung von Recherchenbericht und Filmessay, ist doppelt aufschlussreich. Sie wirft nicht nur ein erhellendes Licht auf die Machenschaften hinter den Kulissen des Kunstbetriebs, die dem naiven Museums­besucher normalerweise verborgen bleiben, sondern sie betreibt, indem sie sich schrittweise durch den Intrigen-Dschungel hindurcharbeitet, auch eine künstlerische Spurensuche. Hinter dem Beziehungsgeflecht der Personen erscheinen die Konturen des komplexen und weitläufigen Gedankengebäudes, das Schwitters mit seiner Kunst errichtete. Es wirkt auch in dieser indirekten Form der Darstellung noch eindrucksvoll genug.

Max Nyffeler