Giacinto Scelsi
The Viola Works, Volume 9: Manto /?Coelocanth / Elegia per Ty / Three Studies / Xnoybis
Musikalische Wertung: 5
Technische Wertung: 5
Repertoirewert: 4
Booklet: 5
Gesamtwertung: 5
«Musik bedarf tatsächlich keiner Erklärung: weder durch Bilder noch durch irgendwelche Zahlen. Ich bin der Meinung, dass pure technische Erklärungen oder Beschreibungen für ein Publikum sehr langweilig sind», erläuterte Mitte der 1980er Jahre der Conte Giacinto Francesco Maria Scelsi dAyala Valva dem damaligen Redakteur des WDR Wilfried Brennecke sein Werk und untermauerte damit einmal mehr den vornehmlich intuitiven Charakter seiner Arbeit. Aber wer wollte auch einer Musik mit analytisch-konstruktiven Versprachlichungen zu nahe treten, die sich in erster Linie spontaner Improvisation verdankt, beseelt von einer fast dandyhaften Assimilierung asiatischer Kulturen?
Auch Scelsis Werke für Viola solo verdanken sich dieser Liebe zu spirituellen Musikerfahrungen außereuropäischer Couleur und nicht zuletzt der Bekanntschaft mit Interpreten, für die Scelsi seine Eingebungen von seinen Transkripteuren maßschneidern ließ. Dass dies einigermaßen sinnvoll möglich war, lag nicht zuletzt an Scelsis Lieblingsmedium im Kontakt mit den Göttern, der Ondiola, einer Art einstimmigem Keyboard, mit dem stufenlose Übergänge und mikrotonale Abstufungen, künstliche Tremoli und Vibrati möglich waren.
Die klanglichen Extravaganzen zur Differenzierung des Einzeltons darf der französische Bratschist und Komponist Vincent Royer in der neunten Folge der Scelsi-Edition bei mode im großen Stil auskosten und dies insbesondere in Manto (1957). Der archaische Duktus des Stücks wird im dritten Satz durch orakelhafte Lautäußerungen in einer Art ethnischen Fantasiesprache endgültig zum Ritus. Es ist nur konsequent, dass Royer Scelsis Anweisung «für einen Ausführenden» ernst nimmt und Gesang und Spiel nicht (wie häufig) auf zwei Interpreten verteilt, um die Intensität des Zusammentreffens beider Klangsphären nicht künstlich zu glätten. Es ist schon eine Gabe, dass das Ganze nicht ins abgeschmackt Esoterische abdriftet, aber Royer schafft dies selbst im Falsett (oder gerade damit
), erfordert der Vokalpart doch eigentlich eine Frauenstimme.
Sehr überzeugend auch die Elegia per Ty (1958) im Dialog mit Séverine Ballon (Cello): spannende Interaktionen rauer Streicherphysiognomien, wo impulsive Ausbrüche den sanft dahintreibenden Klangstrom aufwühlen. Einer noch etwas konventionelleren Schaffensphase Scelsis sind Coelocanth (1955) und die Three Studies (1956) zuzurechnen. Sie präsentieren eine noch deutlich melodiös gearbeitete Diatonik mit scharfen rhythmischen Konturen und reicher Ornamentik, deren Virtuosität Royer geradezu verspielt auskostet, auch wenn die undomestizierte Wildheit (und Schnelligkeit) der Originale auch mit bestem Willen nur schwer darstellbar ist. Bei den Studien handelt es sich im Übrigen ebenso um eine Ersteinspielung wie bei Xnoybis (1964), im Original für Violine solo. Royers Transkription bringt in diese irisierende Musik zwischen Stillstand und Bewegung, die gemächlich einen Zentralton umkreist, ein anregendes Quantum Düsternis hinein, oder wie György Ligeti gesagt hätte: «einen Nachgeschmack von Holz, Erde und Gerbsäure».
Dirk Wieschollek