Myra Melford’s Be Bread

The Whole Tree Gone

Verlag/Label: Firehouse 12 Records
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2010/04 , Seite 92

Musikalische Wertung: 4
Technische Wertung: 4
Repertoirewert: 3
Booklet: 4
Gesamtwertung: 4

Anfang der 1990er Jahre galt Myra Melford als der «shooting star» der New Yorker Jazzszene. Mit ihrem dynamischen und expressiven Spiel sorgte die Pianistin bei internationalen Festivals für Aufsehen, und ihre Platteneinspielungen ernteten höchstes Kritikerlob. Mit verschiedenen eigenen Gruppen erkundet sie seither die Dimensionen eines Jazz, der weder nostalgisch in die Vergangenheit blickt, noch sich vollkommen auf den spontanen Einfall und die Intuition verlässt. Strukturen, kompositorische Elemente und rhythmische Linien waren für Melford immer ein wichtiger Steuerungsmechanismus, um den Impro­visationen Form und Richtung zu geben.
«Be Bread» heißt die neuste Formation der Pianistin, die heute in Kalifornien lehrt. Das exzellente Sextett ist eine panamerikanische Gruppe, die sich aus ein paar der hochkarätigsten Jazzimprovisatoren der Ost- und West­küste zusammensetzt. Melford hat für das Ensemble Kompositionen entworfen, die auf einen aufgeklärten Jazz abzielen, der manchmal frei, meistens aber rhythmisch und harmonisch gebunden ist.
Schwebende Melodielinien, federnder Swing, fein austarierte Passagen mit dynamischen Steigerungen bestimmen das Bild. Die notierten Abschnitte werden von fantasiereichen Improvisationen weitergesponnen und transformiert, wobei sich manchmal ein unbegleitetes Solo dazwischenschiebt oder ein klangmalerischer Teil, bei dem Melford ins Innere des Flügels greift, um harfenartige Zirptöne zu erzeugen, auf die Klarinettist Ben Goldberg mit Vogelgezwitscher antwortet.
Melford besitzt einen Sinn für Proportionen. Nie wirkt die Musik selbstbezogen oder zu ausufernd. Vielmehr besitzt sie eine sicheren Instinkt für den Moment, an dem bestimmte improvisatorische Passagen ausgereizt sind. Improvisatorische Disziplin wird hier als Tugend exerziert.
Manchmal gerät der Ensembleklang in den Arrangements fast ein bisschen zu makellos oder die verträumte Stimmung läuft Gefahr, ins Schwelgerische umzukippen. Dann braucht es ein handfestes Solo, um die Musik wieder mit roher Expressivität auf die Erde zurückzuholen. Neben dem Tastenspiel der Ensemble-Leiterin, das durch seine prägnante Art heraussticht, fällt vor allem Trompeter Cuong Vu auf, ein wahrer Feuerspeier. Mit seinen verwischten Tönen und «dirty notes» bläst er der Musik eine Intensität ein, die an Lester Bowie oder Don Cherry erinnert. Obwohl eine dynamische Rhythmusgruppe Akzente setzt, herrscht weitgehend das Gefühl vor, einem Kammermusikensemble zu lauschen, so einfühlsam, dezent und diszipliniert agiert die Gruppe.

Christoph Wagner