Kramer, Ursula (Hg.)

Theater mit Musik

400 Jahre Schauspielmusik im europäischen Theater

Verlag/Label: transcript, Bielefeld 2014, 461 S.
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2015/05 , Seite 85
«Theater mit Musik» meint Musik für die Sprechbühne. Die hat ihrerseits im neuen Jahrhundert enorme Veränderungen erfahren. Auf deutschen Bühnen donnern die Rockband-Sounds nur so aus dem Lautsprecher selbst bei Aufführungen von antiken Dramen. Computergenerierte Klänge pfeifen einem bei Lessing, Goethe, Schiller um die Ohren. Allerdings sind die neuen Möglichkeiten mit einem gravierenden Defizit erkauft worden. Das lebendige Musizieren auf der und für die Bühne verkümmert. Der Live-Musiker, letz­tes Glied der Kette, scheint überflüssig. Hauskomponisten und -ensembles oder gar Leiter einer Abteilung Bühnenmusik sind kaum mehr auszumachen oder ihr Auftreten hat sich gänzlich erledigt. 
Vor diesem Hintergrund kommt nun dieser Sammelband, herausgegeben von Ursula Kramer: 400 Jahre Schauspielmusik im europäischen Theater. Der forscherische Weg führt durch den halben Kontinent. Die Schrift hebt an mit Ergebnissen eines DFG-Forschungsprojekts zur «Schauspielmusik im deutschen Sprachraum zwischen 1500 und 1700». Es ging darin um die Sichtungsarbeit ganzer Bündel von Dramen, bei denen sich herausstellte, das in neunzig Prozent der Spiele nachweislich musiziert wur­de. Arbeiten großer Komponisten seien eher selten, konstatiert die Autorin Irmgard Scheitler. In Deutschland sei vornehmlich an Schulen gespielt worden oder auf Initiative von Bürgergruppen und an Adelshöfen. Während Berufsschauspieler in Wandertruppen von Ort zu Ort gezogen seien, hätten Kantoren, Organisten und Kammermusiker die Kompositionen geliefert. Die Ausführenden seien in den meisten Fällen Laien gewesen. 
Nicht fehlen durfte die «Schauspielmusik in der ‹klassischen› Provinz», voran Goethes Initiativen am Weimarer Hoftheater, das 1798 mit der Inszenierung von Schillers Wallensteins Lager eröffnete. Die Autorin fand heraus, dass im Soldatenlager der seinerzeit bekannte «Pappenheimer Marsch» als Kriegsmusik fungierte. Eingebaut worden wären auch Chor-, Lied- und Tanzeinlagen. Tendenz am Hoftheater: Autoren experimentieren mit dem antiken Chor. Das Arrangement verfügbarer Formen dominiert vor extra komponierten Musiken. Dies zu belegen, ist viel Material zusammengetragen und ausgewertet worden. Fast alle Autoren beklagen die Dürftigkeit der Quellenlage. Bühnenmusik zu erforschen sei mühsam, weil es oft schwierig ist, an die Belege in Gestalt von Notenblättern, Particelli oder Partituren zu gelangen. Vieles, namentlich aus der Frühzeit, sei verschollen oder existiere nur rudimentär, als verbaler Eintrag in den Dramentexten. 
Stephanie Klauks Untersuchungen zur Schauspielmusik in Spanien vor Lope de Vega sind vor allem methodisch aufschlussreich. Aus über tausend Dramentexten, schreibt sie, konnten im Rahmen eines Forschungsprojekts mehrheitlich solche Liedtexte erschlossen werden, deren Formen auf Vertonungen der musikalischen Gattungen Villancico, Romance und Madrigal hindeuten. Das Problem der Zuordnungen erläutert die Autorin an Dramentexten, die Juan del Encina, Dramatiker und zugleich Komponist, für den Herzog von Alba in Salamanca gedichtet hat. Ein hochinteressante Studie. 
Stefan Amzoll