Koch, Gerhard R.
Theodor W. Adorno
Philosoph, Musiker, pessimistischer Aufklärer
Nachdem zum 100. Geburtstag 2003 bereits mehrere Monografien erschienen, nun also noch ein Buch über Adorno. Doch in der seit den 1990er Jahren gängigen Schmähung der Achtundsechziger samt deren angeblicher Galionsfigur Adorno sowie im Abtun von Verfechtern neuer Musik und Kunst als «Adorniten» findet Gerhard R. Koch genug Berechtigung für seine Unternehmung. Und wichtiger noch: Sein gut bebildertes Buch kann sich sehen und lesen lassen.
Statt einer traditionellen Biografie zeichnet der langjährige Musikredakteur der FAZ, der Adorno noch selber erlebte, ein komplexes Porträt des Philosophen, Soziologen, Komponisten und Musikdenkers. Koch bringt Adornos Werke und Kernthesen in erhellende Zusammenhänge mit dessen Herkunft als Sohn eines jüdischen Weingroßhändlers und einer genuesisch-korsisch-stämmigen Sängerin sowie dessen Exil- und Wirkungsstätten in London, New York, Los Angeles und Frankfurt am Main. Der Fokus auf Frankfurt ergibt sich durch das Erscheinen des Buchs in der Biografienreihe «Gründer, Gönner und Gelehrte» der dortigen Goethe-Universität.
Der hochbegabte und leicht narzisstisch veranlagte Junge erfuhr durch sein Elternhaus eine intensive musikalische Bildung. Er lernte Klavier und wie der ältere Hindemith bei Bernhard Sekles Komposition. Schon als Schüler schrieb er für die Frankfurter Zeitung ebenso überzeugungsfeste wie ästhetisch argumentierende Artikel. Das 1921 begonnene Philosophie-Studium an der erst 1914 gegründeten Frankfurter Universität krönte er schon 1924 mit einer Dissertation und 1931 der Habilitation über Kierkegaard. 1925 erhielt er Privatunterricht bei Alban Berg in Wien. Entscheidend ist, dass Koch all diese Sphären genauso zusammen sieht wie es Adorno selber tat. Am 1924 gegründeten und 1949 wiederhergestellten Frankfurter Institut für Sozialforschung dachten er und Max Horkheimer beide Mitbegründer der «Kritischen Theorie» Ökonomie, Politik, Individuum, Gesellschaft und Musik unter Einbeziehung von Psychologie, Marxismus und Kommunismus stets als Gesamtzusammenhang Hegels Diktum folgend: «Das Ganze ist das Wahre.»
Über bloße Fakten-Reportage geht Koch auch insofern hinaus, als er den Sozialcharakter des Denkers kritisch kommentiert und befragt. Warum kommen in dessen 194447 entstandenen Minima moralia ihres Zeichens Reflexionen aus dem beschädigten Leben die Alltagsrealität, Arbeitswelt und Rassendiskriminierung der US-amerikanischen Gesellschaft nicht vor? Der Vorwurf des «Elitarismus des exilierten deutschen Kulturbürgers» liegt da nahe. Auch die Nähe von Adornos Invektiven gegen den Jazz zu den nationalsozialistischen Diffamierungen des Jazz spießt Koch auf. Detaillierte Kapitel finden sich zur Entstehung von Thomas Manns Roman Doktor Faustus, in dem sich Adorno gleich mehrfach karikiert findet, und Adornos Auseinandersetzung mit seinem seit 1955 schnell berühmt-berüchtigt gewordenen Diktum «Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch». Gut, dass es dieses Adorno-Buch gibt!
Rainer Nonnenmann