Händel, Georg Friedrich
Theodora
Dass Despoten der Gaddafi-Klasse, die ihre Herrschaft über das Volk mit Vergewaltigungsstrategien zu festigen pflegen, keine Errungenschaft des Fernsehzeitalters sind, lässt sich am Oratorium Theodora von Georg Friedrich Händel in Erfahrung bringen. Es erzählt die Geschichte einer christlichen Märtyrerin, die sich weigert, die römischen Götter zu verehren und deshalb vom antiochischen Statthalter zur Vergewaltigung durch die Soldaten verurteilt wird. Händel schuf damit das packende Porträt einer stillen Heldin, die sich auch durch perfide Gewalt nicht von ihrem Glauben abbringen lässt und schließlich freiwillig Erniedrigung und Tod erleidet.
Anders als in Händels früheren Opern, die mit Machtintrigen, Zornesarien und schmachtenden Liebesbekenntnissen das pralle Leben feiern, dominiert in diesem 1749 entstandenen Oratorium ein introvertierter Tonfall. Das Drama des auf seiner inneren Freiheit beharrenden Individuums findet seinen Widerhall in abgedunkelten Farben und differenzierten Moll-Registern. Die konkreten Handlungsmomente sind ausgeblendet, zur Darstellung kommen nur das Beziehungsgeflecht der wenigen Hauptfiguren und ihr Innenleben: auf der einen Seite Theodora, auf der andern Seite der sadistische Statthalter Valens, und dazwischen einige Einzelgestalten aus dem Volk, die vor der Wahl zwischen Obrigkeitsangst und Freiheitsstreben stehen Septimus, der schwankende Offizier, sein Kollege Didymus, der zum Christentum konvertiert und am Schluss mit Theodora in den Tod geht, und Irene, ihre Glaubensgefährtin. Der Chor als kollektives Subjekt kommentiert nicht nur, sondern schlüpft auch in unterschiedliche Rollen.
Die Gefühle von Angst, Mitleid und Zuversicht und die damit verbundenen Gewissenskonflikte schildert die Musik mit großer psychologischer Einfühlung. Der innere Handlungsverlauf wird immer wieder unterbrochen durch allerlei moralische Reflexionen, wie sie auch Bach in seine Passionen eingefügt hat. Der Chor spielt dabei eine bedeutende Rolle. Mit seinen großartigen, kontemplativ ausgerichteten Vokalsätzen wird die Musik endgültig zur Trägerin der Handlung. In der Hauptrolle zeigt sich Christine Schäfer auf dem Weg zur Charakterdarstellerin, Johannes Martin Kränzle gibt den Statthalter als launisch-grausamen Despoten, der Countertenor Bejun Mehta in der Rolle von Theodoras Geliebtem beeindruckt durch geschmeidige Expressivität.
In der szenischen Aufführung, die zum Händel-Jahr 2009 im Großen Festspielhaus Salzburg stattfand, deutet der Regisseur Christof Loy die Handlungsmomente nur an. Chor und Solisten bewegen sich im offenen, sparsam eingerichteten Bühnenraum von Annette Kurz halb als Konzertsänger, halb als Akteure. Damit tendiert die Aufführung zur halbszenischen Form der Konzertinstallation, wie sie heute in der neuen Musik des Öfteren erprobt wird. Auch wenn die Inszenierung mit ihrer Absage an wohlfeile Bühneneffekte und große dramatische Gesten manchmal etwas spröde wirkt, so trifft sie den Charakter des Werks, das die Dramatik ganz in die Musik verlegt, doch sehr genau. Der Zuschauer wird zu jenem inneren Hören hingeführt, wie es sich fast zweieinhalb Jahrhunderte später auch ein Luigi Nono mit seinem Prometeo vorstellte.
Max Nyffeler