Miškinis, Vytautas

Thoughts of psalms

Verlag/Label: Carus 83.459
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2010/06 , Seite 86

Musikalische Wertung: 5
Technische Wertung: 5
Repertoirewert: 5
Booklet: 5
Gesamtwertung: 5

Wie schön, dass sich in Norderstedt bei Hamburg ein Chor etablieren konnte, der – beflügelt von der chorleiterischen Fähigkeit und Leidenschaft seiner Dirigentin – der einzigartigen, ungebrochenen Chortradition skandinavischer und baltischer Länder nachstrebt. Zugleich knüpft der Kammerchor «consonare» an eine Spezies hanseatischer Chorkultur an, die seit dem Able-ben des Norddeutschen Singkreises (Gott­­fried Wolters) und der Cappella vocale (Martin Behrmann) verblichen schien.
Was den Chor, der sich durchaus auch «unwohltönenden» Klangfügungen gewachsen zeigt, für die Chor­literatur des nördlichen Ostseeraums einnimmt, ist die Tatsache, dass viele Klangschöpfer dieser Kulturlandschaft selber begeisterte Chorsänger sind oder waren. Chorkomponisten wie die Schweden Ingvar Lidholm und Arne Mellnäs, der Norweger Knut Nystedt, der Däne Vagn Holmboe, der Lette P¯eteris Vasks, der Este Veljo Tormis und eben der Litauer Vytautas Miškinis wissen, was gewandten Chorstimmen zuzumuten ist und wie ihre Möglichkeiten mit gegenwartsnahen Klangvorstellungen in Einklang zu bringen sind. Wobei all diese Tonsetzer dem heimischen Volkslied nahe stehen. (Tormis bekennt gar: «Nicht ich komponiere, das Volkslied komponiert mich.»)
Mit der Idee, die Veröffentlichung einer repräsentativen CD ihres Kammerchors mit der Einführung eines neuen Komponistennamens in die west­europäische Chorwelt zu verbinden, traf Almut Stümke ins Schwarze. In dem 65-Minuten-Programm, das sich in wechselnden Chorbesetzungen um den vierstimmigen Zyklus Thoughts of psalms rankt, verarbeitet Miškinis öfter gottesdienstliche Gesänge – so in der Psalmvertonung Dilexi («Das ist mir lieb, dass der Herr meine Stimme und mein Flehen hört»), der Magnificat-Antiphon Tu es («Bist du, der da kommen soll?») oder der Pfingstsequenz Veni Sancte Spiritus.
Miškinis’ Chorkompositionen of­fenbaren ein tiefes Verständnis für die Sinnhorizonte und die poetische Kraft der kirchenlateinischen Texte, was sich sowohl in sinnfälligen Wort-Ton-Beziehungen äußert als auch in klar gegliederten formalen Verhältnissen und klangfarblichem Reichtum. In der Schilderung abgrundtiefer Trauer, im Gloria-Jubel oder im Wegsacken der Akkordfundamente unter der Sündenlast der Welt klingen mimetische und rhetorische Bildhaftigkeit barocker Satzkunst nach. Groovig tänzelndes, wiederholungsseliges Gotteslob lässt an Gospelsongs oder Spirituals denken. Parallele Sekunden verweisen auf die polyphone litauische Gesangsform der Sutartine.

Lutz Lesle