Berg, Alban / Karl Amadeus Hartmann

Tief in der Nacht

Sieben frühe Lieder/Jugendlieder/Zwei Lieder nach Theodor Storm; Lamento

Verlag/Label: ECM New Series 2153
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2011/01 , Seite 85

Musikalische Wertung: 5
Technische Wertung: 4
Repertoirewert: 5
Booklet: 4
Gesamtwertung: 5

Sieben frühe Lieder ließ Alban Berg in seinen Reifejahren an die Öffentlichkeit gelangen: In einer Orchesterfassung des Komponisten erklangen sie erstmals bei einem Wiener Konzert am 6. November 1928. Ausgewählt hatte er sie aus einem Fundus von etwa 140 gleichartigen Kompositionen, die zwischen 1905 und 1908 während seiner Studienzeit bei Arnold Schönberg entstanden waren. In ihrer ursprünglichen Klavierfassung sind sie auf der vorliegenden CD zu hören, und zwar erfreulicherweise zusammen mit einigen der weit weniger bekannten sonstigen Lieder Bergs aus dem gleichen Zeitraum, die sich weder im musikalischen Stil noch in den textlichen Vorlieben wesentlich von den Sieben Liedern abheben. Unter den Dichtern der ausgewählten zusätzlichen Jugendlieder sind Peter Altenberg, Johannes Schlaf und Johann Wolfgang von Goethe vertreten, wo­bei Berg sich sogar an dessen schon so oft vertonte Mignon wagte.
Die Sopranistin Juliane Banse und ihr Partner Aleksandar Madžar am Flügel machen mit ihren Berg-Interpretationen nachhaltig auf ein zu wenig gewürdigtes Lied-Repertoire aufmerk­sam, das in manchen Momenten wohl noch zur opulenten Kunst eines Richard Strauss hinübergrüßt oder zur mehr grüblerischen Vertonungsweise Hugo Wolfs zurückblickt, aber den Komponisten bereits auf dem Weg zur eigenen Handschrift zeigt. Mit der wunderbaren Leichtigkeit und Geschmeidigkeit ihres Sop­rans wird Banse Bergs oft filigraner Liedkunst gerecht, vermag aber auch bruchlos aus der Li­nie heraus ekstatische Aufschwünge zu gestalten, während im Klaviersatz gelegentlich geradezu impressionistische Klangwirkungen zu vernehmen sind.
Besonders erhellend ist es, wenn der frühen Vertonung von Storms Schließe mir die Augen beide aus dem Jahre 1907, die noch klar im tonalen Rahmen von C-Dur verankert ist, die spätere Fassung des gleichen Texts von 1925 folgt: der erste tastende Versuch in Richtung der Zwölftontechnik, wobei Berg sich hier schon jener Reihe bediente, die er wenig später seiner Lyrischen Suite für Streichquartett zugrunde legte.
Es ist kein Zufall, wenn Banse und Madžar ihre Berg-Lieder-Einspielung mit einer Interpretation von Karl Amadeus Hartmanns 1955 entstandener Kantate Lamento für Sop­ran und Klavier kombinieren. Denn diese fußt auf einem älteren Werk für Sopran, Chor und Klavier von 1936/37, das der Komponist damals dem Angedenken des eben verstorbenen Alban Berg gewidmet hatte. Gedanklich gehört die Kantate nach Gedichten von Andreas Gryphius in den Umkreis von Hartmanns Oper Simplicius Simplicissimus und ist als Warnung vor der kriegstreiberischen Politik des Nationalsozialismus gedacht. Höchst eindringlich im Tonfall der Klage und Anklage gestaltet Banse Hartmanns eher rezitierende als melodiöse Gesänge mit ihren expressiven, weiträumigen Stimmführungen, während Mad­žar seinen Klavierpart wild-zerklüftet und fiebrig-nervös ertönen lässt. Ruhe kehrt auch in der «Frieden» überschriebenen Schlussnummer nicht ein: eher angsterfüllt wirkt sie in der vorliegenden Interpretation, und weniger Erleichterung ist es, zu der die letzten ersterbenden «Friede»-Rufe führen, als Ermattung.    Gerhard Dietel