Fujikura, Dai

Time Unlocked | Vanishing Point | Fifth Station | Grasping | Calling

Verlag/Label: Stradivarius STR 33972
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2015/02 , Seite 87

Musikalische Wertung: 5
Technische Wertung: 5
Booklet: 3

Dai Fujikura ist ein ausgesprochen synästhetisch denkender Komponist, der seine komplexen Texturen und Klangprozesse schon mal aus dem Formen- und Bewegungsrepertoire der Natur herleitet. Unter dem Titel «What music can learn from the movement of birds and fish» schrieb der in Osaka geborene, aber schon lange in London lebende Komponist im Guardian: «I have spent many nights studying and admiring the beauty of swarming fish and birds on YouTube. […] Swarming birds and fish move freely but with an elasticity of over­all shape – a beauty I wanted to express in my music.» Fujikuras Umgang mit der Materie Klang, seinen unterschiedlichen Dichteverhältnissen, Aggregatzuständen und  Bewegungsrichtungen ist für ihn grundsätzlich eine ganz taktile Angelegenheit: «When I hear a sound, I don’t just hear the sound or see the colour (as some people say they do), but I can also see the movement of an object. I explore what would it be if I could put this musical material (it could be a phrase, or a chord played) in my mouth; what sort of taste and feeling would it have?»
Ein derart haptischer Zugriff ist in all diesen Ensemblestücken spürbar, deren komplex polyphones Geschehen fast völlig ohne unkonventionelle Klangerzeugung auskommt und dennoch ganz eigene Zustände von Klangfarbe, Harmonik und Temperatur ausprägt. Das hat Fujikura mit seinem Lehrer George Benjamin gemeinsam. Oft treffen dabei viel­farbige Holzbläserkombinationen auf Streicher mit einem zentralen Klavier/Schlagzeug als Schaltstelle, so auch in Time unlocked, in dessen
polyrhythmischem Gewimmel und vielschichtigen Multiphonics immer wieder Spuren «asiatischer» Tonauffassung und Klangerzeugung auftauchen. Dennoch wäre es irreführend, in Fujikura einen asiatischen Komponisten sehen zu wollen. Wenn die über weite Strecken mit Plektron gespielten Streicher eine kaputte Mechanik erzeugen, ist Ligeti näher als Zen.
Ätherische Klangflächen hingegen dominieren das groß und vielfarbig besetzte Vanishing Point, wo die Perkussionsinstrumente fast komplett mit Bogen gestrichen werden, zu Beginn zerbrechlich wie dünnes Glas, am Ende ein Tumult, in dem diffuse Knäuel melodischer Phrasen der arco-Streicher durchschimmern wie spätromantische Artefakte. Melancholische Espressivo-Einsprengsel begegnen auch in Fifth station, einer Musik, die vom Kontrast irisierender Flächen und schroffer Gestik lebt, aber immer wieder in ihre Bestandteile zerbröselt, ständig auf dem Sprung von Form zu Formlosigkeit und zurück. Besonders faszinierende harmonische Spektren zwischen solistischer Zersplitterung und orchestralem Tutti bildet das reine Streicherstück Grasping aus, während Calling eine Monodie für Fagott verkörpert, deren extremen Registern und Klangkontrasten Dirigent und Solist Qualitäten abgewinnt. Überhaupt macht Prague Modern aus Fujikuras Musik eine Musik zum Anfassen.
Dirk Wieschollek