Stiebler, Ernstalbrecht

Ton in Ton

Verlag/Label: m=minimal, mm-017CD
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2013/05 , Seite 84

Musikalische Wertung: 5
Technische Wertung: 5
Booklet: 4

Fast drei Jahrzehnte als Neue-Musik-Redakteur beim Hessischen Rundfunk stand Ernstalbrecht Stiebler (*1934) als Komponist im Schatten der von ihm geförderten Heroen einer Avantgarde der Stille und des Klangs: Giacinto Scelsi, Morton Feldman und anderen. Was aber im Schatten wuchs, ist ein Werk von äußerster Konzentration und Abgrenzung, entschlossen zur Zurückhaltung von allem, was an Musik «emotional» und affektiert sein könnte. Die Musik, die Stiebler «macht», man möch­te fast sagen: «initiiert», ist eine Musik des Nichtmachens – des Reduzierens. Reduktive Musik ist sein Terminus, und sein künstlerisches Handeln ist höchst konzentriert und strukturiert. Als Betrachter ist er sich der Wirkungen seiner Musik bewusst, als Komponist aber schafft er Strukturen, in denen sich der Klang erst noch einzurichten hat. Und das gibt der so entstehenden Musik die große Freiheit, sich zu einer unerschöpflichen Quelle auditiver Wahrnehmung zu entfalten.
Ton in Ton (2011), das Hauptstück der gleichnamigen CD, gespielt vom Ensemble Modern, stapelt Töne, deren Unterschiede nicht Intervalle einer Melodie darstellen, sondern wie Sedimente erscheinen, eigene Welten mit zahlreichen individuellen Eigenschaften wie Instrumentalklang, Dauer, Tongestaltung, Lautstärke. Alle diese Eigenschaften eröffnen sich dem Hörer mit äußerster Klarheit, es gibt keine instrumentatorischen Zaubertricks, die überwältigen, sondern alles ist beobachtbar und nachvollziehbar. Die Komplexität – letztlich das Überwältigende dann doch – ist, was der Hörer sich durch Zuhören selber ansammelt, nämlich in der Sensibilisierung seiner Wahrnehmung, die ihm schließlich eröffnet, dass die Vorgänge vollkommen unvorhersehbar sind.
Wie kann man die Kluft zwischen äußerst bewusster Konstruktion und beseelender Wirkung deuten; worin liegt die intellektuelle Auseinandersetzung? Stehen die Musiker der Konstruktion als Kreative oder als Ausgelieferte gegenüber? Nein, sie sind tatsächlich Partner der Hörer, selbst zuhause am Abspielgerät, wo man ohne die Resonanz des Aufführungsraums auskommen muss, und teilen mit ihnen das Umschlagen einer sorgfältig durchorganisierten Handlungsanweisung in eine gänzlich irrationale Musik, die einem Naturerlebnis nahekommt.
Torsi für Orgel von 2002 mit Hans-Peter Schulz an der Heintz-Orgel der Konstanzer Stephanskirche ist technisch gesehen eine Studie über das Anblasen tiefer Labialpfeifen und künstlerisch wiederum eine Konzentration auf das Wesentliche: den Ton und den Raum. Aber der Einschwingvorgang der schwerfälligen Basspfeifen wird geradezu physisch erlebbar und das ist die Umkehrung von minimal in maximal. Stiebler kennt den Zenbuddhismus und den Taoismus und weiß von der Fülle der Leere. Torsi gibt das Klangbild einer geistigen Einkehr, bar aller scharfen Reize der Welt. Eine Höhle.
Das andere Orgelstück, Betonungen (1968), noch serialistisch, zeigt, wie ausdrücklich und eindringlich sich schon der junge Stiebler für die Kommunikation vom Klang an sich einsetzte.

Matthias R. Entreß