Lim, Liza
Tongue of the Invisible
Musikalische Wertung: 4
Technische Wertung: 5
Booklet: 5
In der Edition musikFabrik von Wergo ist im Juni ein Live-Mitschnitt eines WDR-Konzerts aus dem Jahr 2011 erschienen. Zum zwanzigjährigen Jubiläum des Ensembles wurde Liza Lims Tongue of the Invisible für einen improvisierenden Pianisten, Bariton und 16 Musiker erstaufgeführt. Die 1966 geborene australische Komponistin mit chinesischen Wurzeln hat bereits in früheren Werken in verschiedene Kulturen hineingeleuchtet, um gemeinsame musikalische Aspekte zu finden und daraus eine eigene Ästhetik zu formen. Ihre Werkfolge zeigt eine Forscherin, die fernab der Oberfläche des Offensichtlichen arbeitet und sich den Zwischentönen, dem Unbekannten und manchmal Unaussprechlichen nähert.
Auch in Tongue of the Invisible spielen musikalische Idiome und Besonderheiten der Sufi, der australischen Aborigines und der westlichen Kultur ineinander. Die behutsame Annäherung an die Dichtung des persischen Dichters Hafis gerät dabei aber an keiner Stelle zu einer oberflächlichen Weltmusikmixtur Lim schafft es in dem knapp einstündigen Werk eine Distanz zu wahren, die sich dem Dichter (der Werktitel, die «mystische Zunge des Unsichtbaren», ist eine Titulierung Hafis im Nahen Osten) freundlich an die Seite stellt, ohne seine Verse zu beschädigen.
Die von Jonathan Holmes geschaffene nicht-lineare englische Übersetzung der Hafisschen Verse ermöglichte es Lim, eine Art selbstgewählten Pfad durch die Lyrik zu gehen. Beim Hören wähnt man sich von Zeit zu Zeit an Stationen, wenn gewisse Gestalten plötzlich auch musikalisch herausragen, etwa während einer «Reise in den Über-Ozean», die Lim genüsslich dramatisiert. Mit den oft doppelbödigen Versen erzeugt sie einen musikalischen Raum, der nichts Endgültiges erschaffen will, aber doch in den acht sehr deutlich in Besetzung und Klanggewand differenzierten Sätzen lyrische Qualitäten und eine «freigesetzte Kreativität» der Musiker hervorhebt.
Das beginnt gleich mit einem instrumentalen Prolog, der eine D-Dur-Klanglichkeit wie durch eine Milchglasscheibe offeriert; später wird sich das D als erdenes Zentrum herausstellen, von dem aus Lims Musiker wie durch einen «metaphorischen Garten» wandeln. Platz für Verharren und Bewegung ist in diesem Garten genug: In den von der musikFabrik spielfreudig ausgekosteten Ensemblesätzen lässt Lim gerne eine massive, allerdings manchmal auch ermüdend wuchernde Klangwelt sprießen, während solistisch ausgearbeitete Sätze für die Oboe (Peter Veale), das improvisierende Klavier (Uri Caine) und den Bariton-Solisten (Omar Ebrahim) den Fokus eher auf eine klar umrissene musikalische Gestalt richten. Immer jedoch bleibt der Text wie Gaze über dem ganzen Werk bestehen; er wird nicht zerrissen, sondern erhält nicht zuletzt durch den vielfarbigen Gesang von Ebrahim eine eigene, fast instrumentale Qualität, in der die Haltung wichtiger wird als die Bedeutungsabsicht. «Unsere Umarmungen sind ein Bankett kreisender Zeit» den Schlusssatz ernst nehmend, kann man diese CD wieder und wieder von wechselnden Startpunkten aus hören und wird jedes Mal neue Perspektiven entdecken.
Alexander Keuk