Niblock, Phil

Touch Strings

Verlag/Label: Touch TO:79
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2011/01 , Seite 89

Musikalische Wertung: 4
Technische Wertung: 5
Repertoirewert: 4
Booklet: 5
Gesamtwertung: 4

Die Metapher eines Ozeans scheint auf Phil Niblocks Musik in zweifacher Weise zu passen: handelt es sich doch, erstens, um ein scheinbar dimensionsloses, Raum- und Zeitgrenzen sprengendes Tosen, das aber wie das Meeresrauschen keineswegs gleichförmig, sondern in einem ständigen Wandel begriffen ist. Dabei überschneiden sich, zweitens, lange Dünungen, mittlere und kurze Wellen, schaukeln sich hoch oder neutralisieren sich in einem endlosen Spiel, das zu einem meditativen Hörerlebnis einlädt. Diese Musik, die nur bei hoher Lautstärke ihre volle Wirkung entfaltet, füllt mit ihrem Volumen den Raum, nivelliert aber zugleich die traditionelle Rollenverteilung zwischen dem Komponisten, ausführenden Musikern und Zuhörern, auch wenn sich hinter jedem der drei auf der Doppel-CD versammelten Stücke sehr präzise, unterschiedliche Versuchsanordnungen verbergen.
Stosspeng setzt Aufnahmen der Töne E, F und Fis, gespielt auf elek­trischer Gitarre und Bassgitarre von Susan Stenger und Robert Poss, zu einem massiven Klangwall von 59 Minuten Dauer zusammen. Kaum zu glauben, dass bei Poure – der Titel verschmilzt die englischen Vokabeln für «arm», «gießen» und «rein» – das Violoncello von Arne Deforce die einzige Klangquelle bildet: Kontrolliert über Oszilloskop bilden mikrotonale Abweichungen von den Tönen A und D auf mehreren Oktaven das einzige Klangmaterial. One Large Rose wiederum besteht aus der Überlagerung von vier 46-minütigen Aufzeichnungen des Hamburger Nelly-Boyd-Ensembles, jeweils von allen vier Musikern live eingespielt in der Christianskirche der Hansestadt auf den Instrumenten Violine und Cello sowie akustische Bassgitarre und Klavier, letztere beide mit Nylonsaiten bearbeitet.
Doch so exakt die Prozedur festgelegt ist, das Ergebnis ist auch vom Komponisten nicht in seiner Gesamtheit vorhersehbar. Der Klang füllt den Raum oder bringt den Raum zum Erklingen – der lange Nachhall des Kirchenraums ist sicher nicht zufällig gewählt. Er dringt nicht nur ins Ohr, sondern ist körperlich spürbar, vom Komponisten programmiert, vom Interpreten gesteuert, aber doch mehr, als was sich in Notation und Spielanweisungen festhalten oder durch das Instrumentalspiel beeinflussen lässt: ein unaufhörliches Spiel an- und abschwellender Klänge und Frequenzen, in die Komponist, Interpreten und Zu­hörer gleichermaßen hineinhorchen. Damit entzieht sich die Musik letztlich auch der Beurteilung. Beschreiben lässt sich nur entweder die technische Prozedur ihrer Entstehung oder aber das subjektive Erlebnis. Hier bietet das Booklet, aus der Sicht des Komponisten, der Interpreten und des Toningenieurs unverkrampft einen gelungenen Einstieg. Alles Weitere bleibt dem Hörer überlassen.
Dietrich Heißenbüttel