Müller-Siemens, Detlev

Traces

Streichtrio | distant traces | … called dusk | lost traces

Verlag/Label: Wergo WER 73102
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2015/03 , Seite 79

Musikalische Wertung: 5

Technische Wertung: 5

Booklet: 5

 
Detlev Müller-Siemens war der jüngste von sieben um und nach 1950 geborenen Komponisten, denen Aribert Reimann 1979 in dieser Zeitschrift einen «Salut für die junge Avantgarde» entbot. Seine Sehnsucht nach der verlorenen Tonalität könne er nicht verleugnen, bekannte der damals 22-Jährige. Das tonale Denken stelle sich ihm «als etwas ständig Angestrebtes» dar. Und doch, «da durch kritische Distanz gefiltert», unmöglich zu realisieren. Es ginge ihm darum, die Distanz bewusst zu machen – «nicht um das Verwenden alter Modelle in regressiver Absicht». Tatsächlich wollte Reimanns «junge Avantgarde» die serielle Erbschaft gar nicht zurückzunehmen, sondern nur ihrem Ausdrucksbedürfnis anpassen. 
Die nach dem Millennium entstandene Kammermusik von Detlev Müller-Siemens lässt die Aufgeregtheit des damaligen Paradigmenwech­sels weit hinter sich. Vom Mondrian Ensemble mustergültig einstudiert und aufgeführt, wirkt sie handwerklich selbstsicher und ästhetisch besonnen. Und doch spürt man unter der Oberfläche eine leise Unruhe, die Hans-Klaus Jungheinrich in seinem klugen Beiheft-Kommentar auf das Wagnis einer «auf sich selbst gestellten» Poetik zurückführt – einer Tonsprache, der immer noch ein heimliches Sehnen nach tonaler Geborgenheit innewohnt, sublimiert zu «Utopien wie Harmonie, Schönheit, Melodie».
Den ersten Satz des dem Mondrian Ensemble zugeeigneten Streichtrios in zwei Sätzen (2002) beschreibt der Komponist treffend als «zerrissen, sprunghaft, oft motorisch und im Ablauf geprägt von hart gegeneinander geschnittenen Teilen mehrerer, sehr unterschiedlicher Gestaltebenen». Der zweite Satz mutet einheitlicher an: «Ein stockend sich nach oben bewegender, brüchiger Gesang, der gegen Ende von einem ‹Presto-Lamento› kurz überblendet wird.»
Das Klaviertrio distant traces folgt vier fernen Spuren, die meist nebeneinander, seltener miteinander verlaufen: «Melodische Gesten, Zeichen, Kürzel – Monologfragmente – immer deutlicher werdend und miteinander verwoben, um sich dann wieder zu vereinzeln und aufzulösen.» Zudem verweist der Komponist auf Spuren von Ligetis Gewebemusik Lontano «und einem Kaddish». 
Das jüdische Gebet für Verstorbene wirft auch Schatten in … called dusk (genannt Abenddämmerung) für Violoncello und Klavier. Der Titel ist der Kurzgeschichte Sans (englisch Less­ness) von Samuel Beckett entnommen. Allen drei Sätzen liegt ein Kaddish zugrunde, das aber als solches unhörbar bleibt, da es ins Obertonspektrum hineinprojiziert wurde. Die Rollen der beiden Instrumente vergleicht der Komponist mit einer Schimäre: «Verschiedene Wesen, zum selben Körper gehörend».
Auch die lost traces sind dem Mondrian Ensemble gewidmet. Das durchkomponierte Klavierquartett sucht Spuren, die ihm seinen Weg weisen können, nimmt sie auf und verliert sie wieder. Die Musik hält richtungslos inne, scheint ganz zu sich gefunden zu haben, um die Spurensuche erneut aufzunehmen. In allem Schweifen wohnt die Sehnsucht nach dem Ungreifbaren.
 
Lutz Lesle