Hölszky, Adriana

Tragödia. Der unsichtbare Raum

Verlag/Label: Wergo WER 67072
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2009/05 , Seite 84

Musikalische Wertung: 5
Technische Wertung: 5
Repertoirewert: 5
Booklet: 4
Gesamtwertung: 5

 

Ein Wohnzimmer, ein zerwühltes Bett, rote Schuhe, eine offene Verandatür: Das war alles, was das Publikum bei der Uraufführung der Oper 1997 in Bonn zu Gesicht bekam. Nur ein blutiges Handtuch und der Schatten eines erhängten Menschen ließen ein tödliches Beziehungsdrama ahnen. Adriana Hölszkys Tragödia (Der unsichtbare Raum) für Bühnenbild und 18 Instrumentalisten, Tonband und Live-Elektronik führt das Musiktheater an einen Extrempunkt: eine Oper ohne Text, ohne Gesang, ohne Akteure, ohne Bühnenhandlung. Nono (Prometeo), Lachenmann und Schönberg erprobten schon ähnliche Wege. Das Drama findet bei Hölszky ausschließlich in der Instrumentalmusik statt, im Mikrokosmos der Klänge und Geräusche. Die Komponistin verwendet vom Libretto (Thomas Körner), einer Studie über Tragik in der Antike, kein einziges Wort, nur stumme Proportionen. Kurz, diese Tragödia ist nur das Phantom einer Oper.
Das Bonner Bühnenbild suggerierte so etwas wie Präsenz in der Absenz. Der Tatort sprach – durch die Musik. Eine spätere Inszenierung in Berlin 2001 verzichtete ganz auf Bilder, die Zuhörer lauschten auf Liegen nur der Musik – im Dunkeln. Ähnlich wirkt auch die «konzertante» Einspielung der Kölner musikFabrik, entstanden 1999 bei den Weingartener Tagen für Neue Musik. Anhaltspunkt ist nur noch der Titel Tragödia. So gehört, realisiert die Aufnahme unter Johannes Debus Hölszkys Partitur als nervöse Hochspannungsmusik. Aus schemenhaften Geräuschen, Tonfragmenten und wanderndem Hall entwickelt sich ein geisterhaftes Instrumentaldrama, ein unsichtbares Theater vorbeihuschender Klanggestalten, assoziierbarer Erwartungen und Vermutungen.
Das Ensemble der musikFabrik mit Streichern, Bläsern, Harfe, Akkordeon und Cembalo erzeugt, ausgeleuchtet in mustergültiger Transparenz, ein Lauschdrama aus tönenden Schreckgesten, Fluchtimpulsen, Klang­ahnungen und -erinnerungen. So entsteht in ständig auf- und abschwellender Unruhe ein knapp sechzigminütiger Wachtraum aus 14 Szenen. Aus der Abwesenheit einer Handlung erwächst in gesteigerter Wahrnehmung ein hyperreales Klanggeschehen. Tastende Läufe, eine leise bratzende Tuba, groteske Terzenstaccati im Holz – die musikFabrik spielt mit unbestech­licher Präzision und fesselnder Theatralik. Hinzu kommen elektronische Klänge, die im Raum schweben, kreisen oder hektisch umherirren. Ein Hörthriller, den die musikFabrik punktuell mit Horrordrastik und makabrem Humor zuspitzt. Weil die Tragödia viel imaginative Kraft fordert, ist sie für Zuhörer auch ein Selbsterfahrungsexperiment.

Otto Paul Burkhardt