Igor Strawinsky, Conlon Nancarrow, Arnulf Herrmann

Transcriptions and Beyond

Works and transcriptions for piano duo

Verlag/Label: audite 97.708
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2015/05 , Seite 76
Das Klavierduo Takahashi|Lehmann entspringt einer Studienfreundschaft. Björn Lehmann und Norie Takahashi lernten sich an der Universität der Künste in Berlin kennen und treten seit 2009 als Duo auf. Neben traditioneller und zeitgenössischer Literatur für Klavier zu vier Händen oder für zwei Klaviere widmet es sich gern auch Transkriptionen, die Komponisten zu eigenen Werken schufen. 
Wie Igor Strawinsky zu seinem Ballett Le Sacre du Printemps. Um die Choreografie zu entwickeln und einzustudieren, brauchte man eine Klavierfassung (wobei zwei Hände nicht ausreichten, um das komplexe Orchestergeschehen markant abzubilden). Doch wie es so geht, wenn der Meißel in Meisterhand gerät: über den praktischen Zweck hinaus entstand ein Opus sui generis. Die Reduktion der Orchesterfarben und des Klangvolumens auf (quasi) Schwarz-Weiß-Schattierungen lässt den Bauplan und die Bauelemente der Mu­sik – Schablonentechnik, Montagen, Blenden, Schnitte – schärfer hervortreten, ohne dass der «stile barbaro» zu kurz käme oder die «imaginäre, der physischen Klangwirklichkeit abgerungene Sanglichkeit» einbüßte (so Habakuk Traber im Beiheft). Man denke nur an das näselnde Fagott gleich am Werkbeginn, das in der Klavierversion wie ein Stabspiel wirkt. 
Wodurch diese als Vorbotin des rund zwanzig Jahre jüngeren Concerto per due pianoforti-soli (das Strawinsky 1935 mit seinem Sohn in Paris uraufführte) kenntlich wird. Wie in den Bach-Bearbeitungen übernehmen die Klaviere hier eine Doppelfunk­tion: als virtuose Soloinstrumente wie als virtuelles Orchester. Im Hin und Her schneller Figurationen und rhythmisch-melodischer Momente vollziehen die Partner häufige Rollenwechsel, finden aber auch dialogisch zueinander. In den Rahmenteilen des «Notturno» kommt ein «großstädtischer» Ton auf, der an Satie, Milhaud, Weill und Stefan Wol­pe denken lässt, während die Gestik der übrigen Sätze wie auch die abschließende Fuge auf Bach und sein Zeitalter verweisen. Das Thema der Quattro variazioni reicht die abschließende Fuge nach. Der Einfallsreichtum, die formale Klarheit und Ordnung dieses «Konzerts ohne Orchester» lassen den Hörer keinen Moment abschweifen. 
Hält sich Strawinsky von virtuoser Raserei fern, stehen György Ligetis Schnelligkeitsräusche im Dienst einer irisierenden «Illusionsrhythmik», so übersteigt der Geschwindigkeitsdrang des nach Mexiko emigrierten Amerikaners Conlon Nancarrow, den Ligeti bewunderte, alles von Menschenhand Einholbare. Doch ist seine Sonatina von 1941 – Vorstudie seiner lochkartengesteuerten Studies for Player Piano – in der vierhändigen Fassung des amerikanische Komponisten und Pianisten Yvar Mikhashoff bei dem Berliner Duo bestens aufgehoben. 
Wie auch die Hausmusik des daselbst lebenden Komponisten Arnulf Herrmann. Sie schillert zwischen Original und Bearbeitung. Der erste Satz «Unschärfe», dem ein eigenes Ensemblestück zugrunde liegt, hätte auch «blurred edges» heißen können. Der folgende, «Leichtes Schwanken», entfernt von seiner Vorlage bis zur Unkenntlichkeit. «Schnelles Ende» schließlich ist eine Voraus-Bearbeitung: die vierhändige Fassung eines Ensemblestücks, das der Komponist erst danach in die Welt setzte.
Lutz Lesle