Cardew, Cornelius

Treatise

Live Recording, Prag 1967

Verlag/Label: mode records, mode 205
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2009/06 , Seite 82

Musikalische Wertung: 4
Technische Wertung: 3
Repertoirewert: 5
Booklet: 3
Gesamtwertung: 4

 

Kurz vor dem «Prager Frühling» gelangte bereits ein Hauch musikalischer Vorfrühling in die Hauptstadt der damaligen Tschechoslowakei, als dort das Ensemble QUaX eine eigene Fassung von Cornelius Cardews Treatise zur Aufführung brachte. Die Gründung des Ensembles durch den Flötisten und Komponist Petr Kotik, der den englischen Komponisten seit 1962 kannte, erfolgte von 1963 bis 1967, als Cardew gerade seine «visuelle Komposition» schuf. Deren 193 grafische Einzelseiten können gemäß der Idee eines «provozierten Musizierens» von jeder beliebigen Anzahl von Musikern auf jede erdenkliche Weise umgesetzt werden. Dabei sollte die offene Suche nach Klängen und Kommunikationsformen auch das soziale Gefüge und die psychische Dimension der Musiker spiegeln. Tatsächlich wurden die gelenkten Improvisa­tionen für das Prager Ensemble zur Selbstfindungshilfe sowie zum Ausdruck von Freiheit, Beweglichkeit, Offenheit, Hellhörigkeit.
Die Nähe der Interpretation zur Partitur wird auf dem restaurierten Live-Mitschnitt der zweistündigen Aufführung vom 15. Oktober 1967 unmittelbar hörbar in den unterschiedlich langen Pausen zwischen den musikalischen Momenten sowie den vielen orgelpunktartig gedehnten Liegeklängen, die formale Einheit stiften und den häufigen Zentrallinien von Cardews Grafiken entsprechen. Ihr Kerninstrumentarium mit Flöte, Tenorsaxofon, Posaune, Schlagzeug und Klavier erweitern die fünf Musiker durch Mundharmonika, Akkordeon, Cello, diverse Accessoires, eine Violine für jeden und eine mit Fagott-Mundstück geblasene Trompete. Die Vielseitigkeit der eingesetzten neuartigen Spiel- und Klangpraktiken ist erstaunlich. Am Rande der Brüchigkeit lavierenden Streicherklängen mit fast gänzlich aufgehobenem Bogendruck folgen lautstarke Perforationen sowie Schaben und Kratzen auf Schlaginstrumenten.
Statt historische Idiomatiken strikt zu meiden, zielte QUaX damals auf stilistische Vielstimmigkeit. Bei allem experimentellen Zugriff auf das Instrumentarium spielte man gerne auch mit Konventionen. Oft nur angedeutet oder gebrochen, manchmal aber geradezu provokant, erklingen Triller, ganze Melodien, Arabesken, regelrechte drei- und vierstimmige Sätze, tonale Kadenzen, Lied- und Tanzelemente. Hier ist es eine tastende Flötenkantilene, dort die unverkennbare Jazzidiomatik des Saxofons und das sprachhafte Glissandieren und Wispern von Lotosflöten. Mal wird ein veritabler Chanson vom Publikum mit spontanem Klatschen quittiert, mal der Tonfall und Rhythmus zufälliger Sprachfragmente aus dem Radio imitiert. Die Doppel-CD enthält eines der raren Zeugnisse aus der Frühphase der Improvisierten Musik. Die Aufnahme ist umso wertvoller, als sie ein Klangspektrum dokumentiert, das zwei Jahre später auch das von Cardew mit gegründete «Scratch Orchestra» und bis heute viele freie oder gelenkte Improvisationen prägen sollte.

Rainer Nonnenmann