Narbutaite, Onute

Tres Dei Matris Symphoniae (2002-03)

Verlag/Label: Naxos 8.572295
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2011/04 , Seite 88

Musikalische Wertung: 5
Technische Wertung: 4
Repertoirewert: 3
Booklet: 2
Gesamtwertung: 4

Der Lyriker und Erzähler Johannes Bobrowski (Litauische Claviere) sprach von den Litauern als einem Volk von Mystikern. Mystik, christlicher Glaube, Geschichtsbewusstsein und Naturverbundenheit treffen sich im Denken und Schaffen der 1956 in Vilnius geborenen Komponistin Onute? Narbutaite?. Eine neue Dimension geistlicher Entrückung öffnete ihre Komposition Melodie im Ölbaumgarten für zwei Streichquartette und Trompete: ein im Jahr 2000 entstandenes Lied ohne Worte, das dem letzten, gottverzagten Gebet Jesu am Ölberg nachhängt und zum Modell des zweiten Satzes ihrer 2. Symphonie wurde. Jüngstes Zeugnis ihrer Glaubenswelt, die Kosmos und Natur mit umspannt, ist ihre große Chormusik zu Allerseelen 2008. Sie gründet sich auf liturgische Texte und die lateinische Namen von Steinen, Blumen und Sternbildern.
Hauptwerk des Jahres 2003 war das chorsinfonische Triptychon Tres Dei Matris Symphoniae (Drei Symphonien der Mutter Gottes). Nach der geglückten Uraufführung im brandenburgischen Frankfurt bestand das Werk während des Gaida-Festivals im Oktober 2004 in Vilnius auch seine litauische Publikumsprobe, diesmal mit dem Kammerchor Aidija, dem Staatlichen Chor Kaunas und dem Litauischen Nationalen Symphonieorchester unter Leitung seines Ersten Kapellmeisters Robertas Šervenikas. Im Juni 2008 kam es im Rahmen des Vilnius Festivals zu einer Wiederaufführung in gleicher Besetzung. Den Live-Mitschnitt veröffentliche Naxos jetzt dankenswerterweise in seiner Editionsreihe «21th Century Baltic». Der Aufnahme ist die gewachsene Sicherheit und Vertrautheit aller Beteiligten mit dem Bekenntniswerk anzumerken, das nach einem Wort der Komponistin «mehr mit existenziellen Betrachtungen und Einfühlungsvermögen zu tun hat als mit dem überlieferten Ritual».
Schalenartig umschließen «Introitus» und «Oratio» – quasi gregorianische Eingangs- und Schlussgebete auf Verse des Hoheliedes bzw. der Hildegard von Bingen – die Trias der Symphoniae, deren erste – «Angelus Domini» – und dritte – «Mater dolorosa» – den kürzeren, weihnachtlich anmutenden Mittelsatz einfassen. Rilkes Gedichtzyklus Das Marienleben, das Gemälde Verkündigung von Fra Angelico und die Faltenwürfe des Creglinger Marienaltars von Tilman Riemenschneider sind nur drei der Inspirationsquellen, die sich zu betörenden Lichtspielen und Schattenwürfen verdichten und seltsam anziehende Farbtöne und Gewebearten hervorbringen.
Zur klangbildlichen Symbolik der Marien-Symphonien gehören sowohl Kreuzeszeichen und heilige Zahlen (die Drei deutet hier auf Verkündigung, Christi Geburt und Kreuzestod) als auch rhetorische Figuren, wie wir sie aus der barocken Kompositionslehre kennen. Eine der sinnfälligsten ist die pausendurchbrochene Seufzerfigur «Suspiratio». Mit ihr beginnt, wie vor Schmerz erstarrt, die Marienklage im dritten Hauptteil «Mater dolorosa». Dank seiner formalen Balance, seiner tonalen Erdung, seiner hell-dunklen Kontrastdramaturgie (intime Soli, raumgreifende Tutti) vermag das Werk auch glaubensfernere Hörer in seinen Bann zu ziehen.
Lutz Lesle