Two

Werke von Edison Denisov, Ali Gorji, Joachim Heintz, Samir Odeh-Tamimi und Charlotte Seither

Verlag/Label: Dreyer Gaido CD21055
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2011/05 , Seite 78

Musikalische Wertung: 5
Technische Wertung: 5
Repertoirewert: 4
Booklet: 5
Gesamtwertung: 5

Das Motiv des Schattens; der 100. Geburtstag von Hannah Arendt; Werke von Schülern Younghi Pagh-Paans; das Gegenüber der zwei Manuale des Akkordeons oder von Instrumentalklang und Elektronik: dies sind nur einige der Klammern, welche die fünf Werke auf der CD von Margit Kern zusammenhalten. Dabei stellt Edison Denisovs feinfühlige lineare Polyphonie gleich zu Beginn eine Ausnahme dar – alle anderen arbeiten vorwiegend mit Klangflächen: hart an den Anfang gesetzt von Ali Gorji, mächtig voluminös bei Joachim Heintz, eher allmählich raumgreifend und alles andere in sich aufsaugend bei Charlotte Seither.
Gorjis Titel Flatterflügel bezieht sich auf den Schatten Zarathustras bei Friedrich Nietzsche und auf die Suche nach einem «Ort der Stille» des Denkens unter einer mitgedachten Bedrohung. Während das Abklingen der anfangs heftig angeschlagenen Cluster ein Flattern sehr deutlich sinnfällig macht, ist die passagenweise Beinahe-Stille durchzogen von unangenehm pfeifenden Sinustönen höchster Frequenz. Ähnlich direkt setzt Heintz das Motiv des Schlagschattens in düstere Klangflächen und elektronisch erzeugte Schläge um, die wiederum «weltpolitische Schläge» illustrieren. Die Elektronik dient hier der Erweiterung des Akkordeonklangs ins Geräuschhafte und Perkussive, in tiefe Regionen und in Glissandi. Dazwischen geistert gelegentlich jenes «unsichere, flackernde und oft schwache Licht», von dem Hannah Arendt spricht. Ganz ohne explizite Textanklänge und elektronische Klangerweiterungen lässt Samir Odeh-Tamimis Tslalim – der Titel bedeutet ebenfalls Schatten – mit stotternden Dissonanzen, dem schwer schnaufend und zitternd auf- und zugezogenen Balg und scheinbar wahllos mal hier-, mal dorthin platzierten Clustern vielleicht noch mehr als die vorangegangenen Stücke an eine ungewisse Dunkelheit, eine Situation der Gefahr oder der Flucht denken.
In Charlotte Seithers Inventaire de départ wird aus einem anfänglich hohen Ton schnell ein funkelndes, blitzendes Gewitter über Tasten und Knöpfe huschender Finger, das wiederum einem tiefen, aus dem Akkordeonklang destillierten Brodeln Platz macht: unterschwellig bewegt, aber doch in sich ruhend wie ein See. In diese geräuschhafte Klangfläche mischen sich einzelne Akkordeontöne, bevor das Ganze erneut ein heftiger Ausbruch unterbricht. Im langen Atem des Wechsels zwischen höchster Geschwindigkeit und annäherndem Stillstand kommt die 21-minütige Komposition schließlich im letzten Drittel fast vollständig zum Stehen: Mit einem solchen Stück nur kann eine CD en­den, scheint doch die Zeit selbst zu einem Halt zu gelangen.
Gegenüber solchem Übergewicht an Schatten, Clustern, Klangflächen und Düsternis bietet nur Denisovs einleitende Komposition eine Alternative, die denn auch passend betitelt ist: Des ténèbres à la lumière – von den Schatten zum Licht. Bewegt umspielen sich die chromatischen Läufe auf beiden Manualen, hin und wieder in schwere Gedanken versinkend und über tiefem Bass zuletzt doch leichthin entschwebend.
Dietrich Heißenbüttel